31.3. Dorfleben

Hallo ihr Lieben,

von ein paar Seiten kam so was wie „Schade, dass keine neuen Reisemeisen mehr kommen…“ – je nun, ich könnte ja im Moment nur leise Meisen schreiben. Rundwanderungen mit leichten Variationen, die aber bezaubernd sind, mit Frühlingswald, den Asphalt durchbohrenden Maiglöckchentrieben und Picknicken an der Aa, wo man Nutrias und Rehe mit dem Fernglas schamlos beobachten kann.
Dann zwei Tage mit Schneegestöber und grauem Himmel, seit heute wieder Gartenbuddeln und im Schaukelsessel mit Blick auf den Fluss heißen Kakao trinken…

Ist bei euch auch so unfassbar klare Luft? Tagsüber ist der Himmel ungeahnt blau, und nachts sind viel mehr und leuchtendere Sterne zu sehen als sonst und nie gesehene Kraterlandschaften auf goldgelbem Halbmond. Das Fernglas ist natürlich auch dafür gut zu gebrauchen. Aber diese Durchsichtigkeit des Firmaments – ich frage mich, ob das echt schon von dem bisschen weniger Fliegen und Fahren kommen kann.

Ich glaube, man kann fast nirgends geeigneter wohnen für die derzeitige Situation als genau hier. Was bin ich froh, dass ich die Hütte nicht gekündigt habe. Gut, krank werden darf man hier nicht. Die hiesige Medizinerdichte und -qualifikation hat sich als bisher nicht sehr ergiebig erwiesen. Aber sonst… wenn man keinen treffen soll, ist das hier perfekt. Selbst die Hundebesitzer scheinen zu versuchen, möglichst wenig draußen unterwegs zu sein. Nur E-Bike-Senioren (allesamt paarweise unterwegs) trifft man, aber die sind schnell vorbei. Und so bin ich also auch hier auf ganz anständige Wanderpensen (was ist der korrekte Plural von Pensum? Pensa?) gekommen. Außerdem übe ich einen Haufen Klavier und mache so nutzlose Sachen wie Perlenketten auffädeln, nur zum Spaß. Und habe eine Menge schöner Knoten gezeichnet und auch ganz didaktische Filmchen davon gemacht, wie das geht. Bloß muss ich jetzt noch rauskriegen, wie ich die in diesen Blog gebastelt kriege. Irgendwann demnächst gibt es hier eine Ecke namens „Kreativgestapelt“, und da findet ihr dann Ideen zum Knotenzeichnen oder Kanonschreiben oder bekloppte Schreibspiele oder so. Soweit der Plan. Das hat sich ja bisher in diesem Frühling schon absolut bewährt, das Planen.

Gestern habe ich mit der Wiener Organisatorin des Pantomime-Kurses eine Test-Video-Konferenz gemacht. Und das hat geklappt! Mein Nachbar Otto, der ein alter Kapitän ist und genau so aussieht, wie ein alter Kapitän assehen muss, bloß mit kürzerem Bart, war so lieb, mir ganz spontan seinen W-Lan-Code rüberzubringen, dessen zugehöriges Netz tatsächlich bis an die eine Gartenecke bei mir reicht. Meistens. Und so werde ich dann am kommenden Wochenende nicht wie befürchtet mit schwächelndem Handy im Wald in Brandenburg, sondern mit aufgeladenem Laptop in der Einfahrt vorm Haus meine Nachbarschaft damit erfreuen, unsichtbare Scheunentore hin- und herzuschieben und auf nicht vorhandenen Fahrrädern zu fahren. Ich fand das ja erst die totale Schnapsidee, Bewegungsunterricht als Online-Kurs. Aber jetzt freu ich mich, das auszuprobieren. Ein Video mit Hausaufgaben haben wir schon geschickt bekommen.
Und womöglich mach ich dann doch noch was Ähnliches für meinen abgesagten Singkurs in Bayern, wenn das hinhaut.

Neue Ideen, wohin man guckt.
Das hiesige Bauernhof-Café hat jetzt ein Drive-In auf dem Hof. Man fährt zwischen die ehrwürdigen Backsteingebäude und lässt sich die telefonisch bestellte Bratkartoffelpfanne oder die Stachelbeerbaisertorte ins Auto reichen.
Der Supermarkt hat einen neuen Angestellten: den Hand-Desinfizierer am Eingang. Der zwingt alle Leute, sich einen Wagen zu holen, vergibt Einkaufswagen-Chips für die unvorbereiteten, die keinen Euro dafür haben, und säubert den Kunden wahlweise den Wagengriff (für die, die denken, sie hätten noch nichts, und sich auch nichts einfangen wollen) oder die Hände (für die, die fürchten, sie hätten schon was, und das nicht verteilen wollen) oder beides.
Unser Bio-Bauer verkauft seit neuestem neben Pastinaken und gelber Bete auch Solidaritäts-Klopapier zu Staffelpreisen. Jede Packung kostet mehr als die davor.
Die Gärtnerei, die eigentlich zu hat, gibt einem, falls man zufällig dann kommt, wenn gerade jemand seine Bestellung abholt, unauffällig so viele Primeln mit, wie man auf dem Fahrrad transportieren kann. Und alle Nachbarn spielen draußen mit ihren Kindern. Ich glaube, die Kinder hier in der Ecke werden später in ihren Memoiren von diesem Frühling als dem schönsten ihres Lebens schreiben. Wenn man sie vom Nachrichtengucken abhält.

Mein allerletzter noch übriger Auftritt, der vom 20.4. im Schwarzwald ist jetzt auch noch geplatzt, zumindest vorläufig. Wir gucken mal, ob wir vielleicht im Herbst einen Ersatztermin finden.
Und sämtliche in der Weltgeschichte rumgondelnden Pakete (außer dem Hamburger Konzertklamottenpaket und dem englischen Lehmbaupaket) sind, zum Teil nach mehrfacher Hin- und Rückreise, wieder hier angekommen, mit Computer, CDs, Stimmbildungskram und all dem Zeug, das ich SO schön strategisch auf den Weg gebracht hatte.

Jetzt wünsche ich euch allen, dass ihr gesund und glücklich bleibt und eher Einkehr als Hüttenkoller erlebt – falls ihr nicht sowieso zu denen gehört, die systemrelevant sind (hurra, endlich sind das mal nicht nur Banken, sondern wirklich wichtige Leute) und den Laden am Laufen haltet durch noch viel mehr Arbeit als sowieso schon.

Ich grüße euch von Ferne und umarme euch mit 200 km Sicherheitsabstand!
Julia

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