Weiterwandern in Schleswig-Holstein

Hallo ihr Lieben!

In Hennstedt kam mir aus einer Einfahrt eine Dame mit Cowboyhut, kurzem Rock und langen grauen Haaren auf einem E-Mobil entgegengefahren und grüßte freundlich. Gegenüber stakste ein einsames Huhn um den flachen Ziegelbau mit der Aufschrift „Königreichssaal der Zeugen Jehovas“. Kurz dahinter konnte man sich wieder in die Felder schlagen, weg von der Landstraße.

Von Hennstedt aus hatte ich eigentlich eine kurze Etappe von 20 km vor, aber die allgegenwärtigen Umwege schlugen wieder zu in Form eines zauberhaften Moorgebiets namens Viertshöher Moor, dessen Wege so sehr im Zickzack liefen, dass ich am Ausgang keine Ahnung mehr hatte, in welcher Himmelsrichtung ich stand. Und es war bewölkt und der Handyakku leer, weil ich unvorsichtig mit drei Leuten telefoniert hatte während einiger weniger interessanter Wegabschnitte. Das erst Mal Nach-Gefühl-Loslaufen brachte mich in weitem Bogen an einen Wegweiser, den ich schon kannte. Nach links auf einem Weg mit „Sackgasse“-Schild sah ich entfernt eine Gestalt wandern. Ich rief mehrmals „Hallo?“ und „Entschuldigung?“. Irgendwann drehte sie sich zu mir. Ich winkte heftig und lief in die Richtung. Sie drehte sich wieder weg und ging ruhig weiter. Sah ich so beängstigend aus? Hatte sie Angst, ich würde sie anbetteln? Den Eindruck hatte ich am ersten Wandertag am Schloss Rantzau schon gehabt, wo alle Ausflügler sehr ausdrücklich an mir vorbeiguckten, wie ich da auf der Bank saß und Brötchen aß.
Jedenfalls holte ich die Dame irgendwann ein, entschuldigte mich, ich hätte sie nicht erschrecken wollen, und sie fragte „Haben Sie gerufen? Das tut mir Leid, ich bin schwerhörig.“ Sie schickte mich dann den ganzen Weg zurück bis dahin, wo ich von der Landstraße abgebogen war, um nicht die ganze Zeit Landstraße gehen zu müssen. Immerhin war da irgendwann noch eine Abzweigung nach links, die mir so aussah, als könnte DAS die gewesen sein, die ich eigentlich gesucht hatte, bevor ich in das schöne Moor geriet, und da marschierte ich dann unverbesserlich wieder nach Gefühl rein. Diesmal war es aber richtig, und es war ein schöner Waldweg, der mir einiges an Landstraße ersparte.

Erst um halb acht kam ich bei Luisas Freundin Elisabeth an, die mir für die Nacht freundlicherweise ein Bett in ihrem urgemütlichen Reetdachhaus angeboten hatte.
Ich war nicht mehr zu viel zu gebrauchen.


Am nächsten Morgen hatte ich das Vergnügen, mit Elisabeth und Sohn, Schwiegertochter und zwei Enkeln zu frühstücken, was in mir enorme Hochachtung vor meiner Mutter und Müttern überhaupt erweckt hat. Da gehören schon Nerven dazu, den Nachwuchs länger als ein Frühstück durchzustehen.
Der Plan war ja gewesen, von Gnutz aus nur eine kurze Etappe bis zur Arche Warder zu laufen, den Zoo für alte Nutztierrassen mit seinen gefleckten Schweinen und Eseln in Übergröße und lustigen Hühnern mit Federn an Stellen, wo keine hingehören, anzugucken und in einer der Hütten zu übernachten – aber sie sind ausgebucht. Wochenende und keiner im Thailand-Urlaub. Da fährt man nach Schleswig-Holstein. Also beschloss ich, nach Jevenstedt zu wandern, ohne vorher ein Bett zu buchen und es drauf ankommen zu lassen. Ich hatte ja die Matte am Rucksack und den Schlafsack dabei für Notfälle.
Die Verpflegungssituation stellte sich wieder ähnlich dar wie in Südfrankreich: die Dörfer haben alle keine Läden mehr. Und keine Bäckereien und nichts. Nicht mal einen Ziegenkäseautomaten. Von daher wollte ich nicht so gerne VOR Jevenstedt übernachten und hungrig schlafen gehen.

Und diesmal hat mir ein Hund die Übernachtung vermittelt. Bei Nienkattbek, wo der unübersichtliche Wald mit Wegen, die alle nicht auf der Komoot-App zu finden sind, langsam wieder offenen Feldern weicht, marschierte vor mir eine Frau mit dünnem braunen Hund, der sich immer und immer wieder zu mir umdrehte und versuchte stehenzubleiben. „Na, SIE müssen ja interessant für meinen Hund sein!“, sagte sie. „Das macht sie sonst nie, sie ist sehr schüchtern.“ Auf die Weise kamen wir ins Gespräch, und dann dachte ich, ich wäre ja blöd, wenn ich sie nicht fragte, ob sie ein erschwingliches Gasthaus mit Betten kennen würde. Und, jawoll, sie brauchte nicht lange zu überlegen, empfahl mir „Möhls“, die hätten von Hotel- bis Monteurszimmern alles und auch gute Küche und beschrieb mir den Weg. Und dann gingen wir bis ins nächste Dorf, wo sie wohnte, und Sie sagte: „Und falls es bei Möhls nicht klappt, DA wohne ich. Dann kommen Sie zurück, ich hab auch ein Gästezimmer.“
Aber Möhls hatte ein lustiges Dachkämmerchen mit Dielenboden und kunststoff-furnierten Möbeln, und ich sank aufs Bett. Und Jevenstedt hat einen richtig großen Supermarkt MIT Postbank und Bäckerei.
Da der Ort nur noch 10 km vor Rendsburg ist, was als Tagesetappe viel zu kurz ist, aber gleich neben einem großen Sumpfgebiet namens „Wildes Moor“ habe ich einen Umweg gemacht. Kurz vor dem Moor kam mir auf völlig einsamem Wirtschaftsweg ein Trecker-Oldtimer-Korso mit historischen, lärmenden und qualmenden landwirtschaftlichen Nurzfahrzeugen entgegen, zum Teil mit Fähnchen geschmückt, sicher zwanzig oder mehr knatterten hintereinander an mir vorbei und alle Fahrerinnen und Fahrer winkten mir zu. Zwei rote Porsches waren auch darunter. Ich wusste nicht, dass rote Porsches SO aussehen können.
Und als ich dann mit nur zweimal Verlaufen (manchmal ist diese GPS-Funktion echt praktisch, um rauszufinden, wo man gelandet ist) im sonst sehr stillen Wilden Moor angekommen war, hörte man plötzlich Stimmen, und zwar viele, und eine Gruppe von vielleicht 30 SpaziergängerInnen mit 25 Hunden aller Größen und Arten an der Leine kam geradewegs auf mich zu. Ein Mann ohne Hund, aber mit Outdoorhosen mit ausgebeulten Taschen an den Hosenbeinen, die sicher ein guter Aufbewahrungsort für Leckerlis waren, gab die Kommandos. Anscheinend eine pädagogische Veranstaltung.

Die nächste Sehenswürdigkeit war der Aussichtspunkt mit angeblich herrlichem Blick übers Moor. Schon von weitem sah man, dass er mit einer Skulptur geschmückt zu sein schien. Ein Standbild zweier eng umschlungener Liebender, sogar farbig. Beim Näherkommen waren sie denn doch für ein Standbild zu bewegt, und als ich eine halbe Stunde später den Aussichtspunkt erreichte und mal übers Moor gucken wollte, plierte der männliche Teil des Paares, der dem weiblichen galant die gute Aussicht überlassen hatte, immer mal unfreundlich an ihr vorbei, hob demonstrativ ihren Rock und zeigte, wie man aus unbekleideten Hinterbacken einen Hefezopf knetet oder so.
Was sagt der Knigge für so einen Fall? Hat man auf die vielgepriesene Aussicht zu verzichten, weil Leute, die sich zum Knutschen den öffentlichstmöglichen Platz ausgesucht haben, da gern ihre Ruhe hätten? Geht man vorbei und grüßt höflich? Fragt man, wo das Ende der Schlange ist? Filmt man unter Anfeuerungsrufen und postet es in sozialen Netzwerken? Ich habe mich da schon ziemlich als Landei gefühlt – obwohl ich ja auf dem Land WAR.

Gleich dahinter traf ich die Gruppe mit den Hunden wieder. Die Vierbeiner waren inzwischen abgeleint, anscheinend war das Seepferdchen bestanden, und man übte sich in fortgeschrittenen Techniken. Ich bin froh, berichten zu können, dass alle HundehalterInnen und alle Hunde das zwischenfallfrei bewältigt haben.

Der Nord-Ostsee-Kanal ist, wenn man nur den Dortmund-Ems-Kanal gewöhnt ist, verblüffend groß und der Fußgängertunnel verblüffend tief und lang – aber mit toller Akustik. Für Konzerte mit Klangschalen und Obertongesang oder dergleichen wie geschaffen. Aber auch zum Unterqueren des Gewässers brauchbar – o.k., außer man hätte Angst vor umschlossenen Räumen oder der ungefähr längsten Rolltreppe Europas.

Na, und dann kam ich im Nordkolleg in Rendsburg an, und wir machten einen Kurzdurchgang der Celler Schule. In gigantisch großem Seminarraum, wo man das Gefühl hatte, sich aufrichten und laut rufen zu müssen, damit alle etwas hören – was für Körperpräsenz beim Unterrichten gar nicht schlecht ist und besser ging als gedacht.
Für alle, die nicht wissen, was die Celler Schule ist: Jedes Jahr gibt es eine von der Gema-Stiftung finanzierte zweiwöchige Masterclass für Liedtexterinnen und -texter aller Sparten von Schlager über Rap bis Kabarett. Eine großartige Spielwiese im Kreise ähnlich verschroben tickender Gehirne und ein unschätzbares „Nestwerk“ (wie Thomas Woitkewitsch zu sagen pflegt) gegenseitiger Unterstützung. Außerdem ein Ort, wo man unfassbar viel lernen kann, falls man das Glück hat, einen der zehn Stipendienplätze zu ergattern.
Mir gelang das 2011, und weil ich nicht genug kriegen konnte, bin ich jetzt Mitglied des Teams und habe die Ehre, jedes Jahr die spannendsten Leute dort zu treffen und sie mit gnadenlosem Handwerk traktieren zu dürfen. Und selbst immer wieder mitzulernen.

Dieses Jahr mussten wir natürlich vieles anders machen. Dass jeder einen Sechsertisch für sich allein hatte, war nicht das einzige Gewöhnungsbedürftige. Wir haben deshalb erstmal nur eine Woche miteinander gearbeitet und uns auf die Sachen beschränkt, die mit wenigen GastdozentInnen funktionieren. Von superseriösem Urheberrechtsvortrag bis zu hingebungsvoller Blödelei wie der 5-Zettel-Geschichte, bei der jedeR auf zwei gelbe Zettel je eine Hauptperson schreibt wie „Anna-Hermine Prieselmann, Kindergärtnerin mit Reimzwang“ oder „Der weiße Hai“ oder „Johannes-Maximilian, 4 Jahre, beißt jeden“. Auf einen rosa Zettel kommt der Grundkonflikt für eine Geschichte. „Pizza oder Döner?“, „Wer muss Unterhalt zahlen?“ „Rasende Eifersucht“ oder so. Ein blauer Zettel enthält den Ort, wo alles stattfindet wie etwa: „im Besenschrank des Bundestags“, „in einem defekten Skilift“ (oder sagt man „auf“?), „in einem Vorort von Atlantis“. Und ein grüner Zettel bekommt einen schmissigen ersten Satz, der schon mitten in die Geschichte führt. „Brems! Ich habe BREMS ges…..AAAAAAHHHH!“, oder „Das hätte ich nicht von dir gedacht!“ Oder „Vierundzwanzig Nieser sind eine ganze Menge.“ Dann falten alle hämisch kichernd ihre Zettel zusammen (weil sie ja denken, die ANDEREN würden die ziehen), schmeißen sie in einen Korb – und in der nächsten Runde ziehen sich alle irgendwelche Zettel in den richtigen Farben, falten sie auf, schreien entsetzt auf, verwünschen die anderen (oder auch sich selbst) – und schrauben dann in 30 – 40 Minuten aus unmöglichem Ausgangsmaterial eine wie auch immer geartete Geschichte zusammen. An allen Gesetzen der Logik vorbei und nach Bedarf auch mit open end wie „Fortsetzung folgt“ oder „Wird unser Held die Heimat je lebend wiedersehen? Lesen Sie weiter in der nächsten HörZu.“
Das ist jedes Mal ein sehr effektives Enthemmungsmittel und die Vorleserunden ein ausgesprochenes Vergnügen.

Und weil jetzt bis zum zweiten Block ein halbes Jahr zu überbrücken ist und ich womöglich ab und an mal lustige Schreibanregungen für die Zwischenzeit aufnehme, kann es sein, dass ich hier demnächst auch mal so was reinstelle, für alle, die Spaß am Ausprobieren haben.

Viele liebe Grüße fürs Erste – genießt es, dass wir mal wieder Hochsommer haben! Ich spring jetzt in die Ems.
Julia

Aerosolemio-Schirm fürs Singen

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