14.9.
Hallo ihr Lieben!
Ihr erinnert euch, was ich gestern geschrieben habe? Heute beim Einschreiben habe ich erfahren, dass die Maskenpflicht während des gesamten Unterrichts gilt. Und dass Omas Seidenschal hier mitnichten als ausreichend angesehen wird. Ich bekam eine Einmalmaske und die strenge Auflage, nachher in der Apotheke welche zu holen. Liesbeth aus Wien hat eine großartige mit Markusplatz drauf. Und sie sieht aus, als würde sie passen und einem nicht mehr Luft abschnüren als nötig.
Wir fingen zu fünft, verteilt auf fünf Stühle mit an der Stuhllehne angeschraubten Klapptischchen, Tische sind unhygienisch, die Vorstellungsrunde an, da kam die sechste, für die kein Stuhl mehr da war. Und auch kein Platz in der kleinen Aula. Alberto fragte: „Würde es euch was ausmachen, auf die Terrasse zu gehen?“ „Nein!“, schrien wir alle und stürzten nach draußen. Großer Tisch, Schattendach und schöne Ausblicke in drei Richtungen. Und: keine Masken. Gott sei Dank.

Dinge, die ich hätte mitbringen sollen: Sonnenhut, Stadtplan von Venedig, MÜCKENSCHUTZ! Wer hätte gedacht, dass es in Venedig so unfassbar viele Mücken gibt? Ich dachte, die bräuchten stehendes Süßwasser, um sich zu vermehren. Offenbar haben die Pfützen des letzten Regens schon ausgereicht. Oder Salzwasser stört sie nicht. Ganze Chöre umsurrten mich in der Nacht, und ich habe mir ständig selbst Ohrfeigen verpasst und kaum mal eine erwischt. Erst nach drei Uhr war ich so müde, dass es mir egal war.
Die am nächsten Tag eilig gekaufte Flasche Autan beeindruckte die Viecher nicht die Bohne. Die Verkäuferin im Bioladen tags drauf gab zu, nichts Adäquates zu haben, ich solle aber in die Apotheke gehen und mir ein Mittel namens „Jungle“ holen, DAS helfe.

In einer kleinen, leeren Apotheke am östlichsten Zipfel Venedigs, Santa Elena, wohin die meisten Touristen sich nicht verlaufen, bekam ich eine ausführliche Beratung – denn sie hatten kein „Jungle“. Das vergleichbare Produkt, das der Apotheker mir vorgeschlug, hatte so viele Gefahrenhinweise (für mich, nicht für die Mücken) aufgedruckt, dass es mir unheimlich war. Einige andere waren nicht viel besser. Dann gab er mir noch eins auf der Basis von Eukalyptusöl und meinte, das sei allerdings schwächer. Egal, ich habs gekauft – und die Mücken mögen es überhaupt nicht. Sie fliegen mich jetzt nachts an und stürzen sich nach einer kurzen Berührung angeekelt davon, um irgendwo zu brechen. Damit kann ich gut leben.

Barbara wollte wissen, wie voll denn der Markusplatz so sei. Ich habe ihr ein paar Abendfotos davon gemacht. Weniger voll als Karneval auf jeden Fall.
Und immer und immer wieder verzaubern mich diese Spiegelungen. Wenn ein Rio (für die Venezianer gibt es nur einen Kanal, das ist der Canale Grande, alles andere, was wir mit Amsterdam-Erfahrung als „Kanäle“ bezeichnen, sind keine. Sie sind ja auch nicht gegraben, sondern die noch vom Meer übrigen nassen Stellen zwischen den Inseln) – wenn also ein Rio ganz glatt da liegt und man das Foto auch umdrehen könnte und als Architekturpostkarte verkaufen – und dann kommt ein Boot und verquirlt das Wasser, und dann gibt es ein paar Minuten die irresten Muster, bis die Gebäude wieder klar werden. Das ist zwar mindestens so ein Anthroposophenfernseher wie das heimische Aquarium, aber es fasziniert mich total.

17.9. Ein Nachmittag am Strand von Pellestrina, der vielleicht magersüchtigsten Insel Europas. In diesem Mini-Film könnt ihr sehen, wie schmal sie ist.

Eine zärtlich warme Brise vom Meer her, das blau und glatt vor mir liegt, die Wellen so klein und ebenmäßig, dass sie nicht einmal rauschen, nur plätschern. Ein paar vereinzelte große Schiffe schieben sich über den Horizont, ein paar ebenso vereinzelte italienische Kinderstimmen gellen von rechts herüber, wo eine Familie unterm selbstgebauten Sonnendach aus Treibholz, Planen und mitgebrachten Klappmöbeln sitzt. Eine junge Frau schwingt auf einer zwischen die Balken gehängten Schaukelbank und beobachtet die Kinder.
Als ich gegen zwei hier ankam, war ich fast die einzige, später am Nachmittag kamen ein paar, so dass man immer so gegen acht bis zehn Leute in Sichtweite hatte. Dummerweise müsste ich der Liste der Dinge, die ich hätte einpacken sollen, noch den Badeanzug hinzufügen. Ich dachte, ich hätte den eingepackt. Ich wusste ja, dass es hier ein Meer gibt.
Ich musste mich jetzt also entscheiden, mit entsagungsvollem Augenaufschlag NICHT zu baden – oder etwas zu tun, das sich in Italien nicht gehört. Die Entscheidung hat einige Zeit in Anspruch genommen. Aber Himmel, man ist sowieso schon viel zu oft feige.


Mit der Wohnung habe ich es diesmal viel besser getroffen. Nicht nur, dass ich das große Zimmer mit Doppelbett habe (und Alex die kleine Mönchszelle), es ist auch noch hell und mit wenigen schlichten IKEA-Möbeln in Weiß eingerichtet, ohne erschlagende Bücherwand mit dreifach geschichteter und gestopfter psychoanalytischer Fachliteratur. Außerdem muss ich kein Extra-Mieterinnen-Plastiktischtuch unterlegen, wenn ich esse, und darf dasselbe schöne Blümchengeschirr nutzen wie die anderen. Sogar ein Schrankfach und eine Kühlschrank-Etage habe ich bekommen.
Laura ist außerordentlich sympathisch, und es besteht immer die Gefahr, dass wir uns verquatschen, wenn wir uns beim Frühstück treffen. Der englische Alex ist schüchtern und freundlich und nimmt von sich aus morgens den Müll mit zum Boot. Den darf man jetzt nämlich in Cannareggio nicht mehr auf die Straße legen oder an Haken hängen wie vor zwei Jahren, nein, man muss ihn selbst zum nächsten Müll-Boot bringen, und zwar zwischen 7:00 und 8:30 Uhr, danach ist das Boot weg. Nichts für Kleinkünstler-Tagesabläufe. Und ich bin sicher, die Möwen und Ratten trauern ihrem allnächtlichen Selbstbedienungsbuffet sehr hinterher.

Die Stadt – was soll man über diese Stadt noch sagen? Sie ist natürlich unvergleichlich in ihrer zu Herzen gehenden Schönheit und Zerbrechlichkeit.

Die Tour nach Pellestrina war ein schöner Anlass, mal wieder Vaporetto zu fahren, zum ersten Mal dieses Jahr. Aber es machte nicht so richtig Spaß. Die Hinfahrt schon, da hatte ich einen Sitzplatz draußen und starrte auf die Paläste. (Wie ihr seht, zum Teil durch die Handy-Linse.)

Auf der Rücktour war die Wahl zwischen drinnen Sitzen und draußen Stehen, und ich blieb draußen. Es wurde dunkel, und man kann dann ganz wunderbar durch die gardinenlosen Fenster sehen und feststellen, dass diese Paläste von innen noch original 17. oder 18. Jahrhundert sind, mit Deckenfresken, riesigen Kronleuchtern und wandgroßen Ölgemälden. Sie sind alles, nur nicht gemütlich.
Ein bisschen war die Zeit knapp mit meinem Ticket, denn es gilt immer nur 90 Minuten. Und mit Bus auf Pellestrina, Fähre zum Lido, weiter Bus und dann Vaporetto war die erste Stunde schon aufgebraucht. Und an der Accademia hielten und hielten wir, und es gab Palaver, und ich kriegte erst nicht mit, was los war.
Ein junges Pärchen, das am Ufer stand, wurde angeschrien. Laut, lange und überzeugt. Der junge Mann wischte sich Tränen von den Wangen. Was passiert war: Er hatte keine Maske dabei.
Auf dem Vaporetto steht man draußen im Wind. Es ist nicht voll. Wir sind in Italien. All das hätte mich vermuten lassen, dass man ihn entspannt mitfahren lassen würde, allenfalls mit der Ermahnung, nächstes Mal besser eine dabeizuhaben. Aber nichts dergleichen. Es gab eine Riesenaufregung, und alle waren hinterher wütend. Der Bootsführer schäumte gerade zu, noch für die nächsten drei Stationen schimpfte er laut vor sich hin. Sein Argument: Für den sind das FÜNF Minuten! Ich muss das Ding sieben Stunden tragen und mache es doch auch.
Für jeden ist klar, dass er Recht hat und der andere ein rücksichtsloser Idiot ist. Von außen kann man sehen, dass beide Standpunkte sich wahr anfühlen können, und dass es sehr traurig und erschreckend ist, wie wenig Gesprächsbereitschaft noch besteht in all diesem Richtigmachen.
Übrigens blieben alle die mit der Maske auf Halbmast vollkommen unbehelligt. Es scheint tatsächlich weniger die Angst vor gemeingefährlichen Killerviren zu sein als dieses: „Wenn ich muss, müsst ihr auch.“
Ich bin dann ausgestiegen, als meine 90 min. abgelaufen waren, und den Rest zu Fuß gegangen.

In der Schule wird uns jeden Morgen Fieber gemessen. Allen. Vorm Reinkommen. Das reinste Lazarett.
Ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass ich bisher fieberfrei war.
Selbst wenn man ins Kaufhaus will, den in den damaligen Venedigberichten schon vielgerühmte „Fondaco dei Tedeschi“ mit der spektakulären Dachterrasse, wird die Temperatur genommen, und niemand darf Türgriffe anfassen. Nur Treppengeländer. Man muss das nicht logisch finden. Für die Türgriffe gibt es extra Personal. Und dafür, alle dummen Touristen die richtige Richtung durch die neu eingerichteten Einbahn-Wege zu lotsen. Und auf die Terrasse kommt man nur noch nach elektronischer Voranmeldung. Wenn man aber erstmal da oben ist, ist es nicht einfach, den Weg nach unten wieder zu finden, weil man erst ganz außenrum muss und dann auf der ANDEREN Treppe wieder runter. Und dann macht einem jemand die Tür auf, ohne dass man einen einzigen Schuh zu Phantasiepreisen gekauft hätte.

Alberto ist nach wie vor ein großartiger Lehrer, nur völlig mit den Kräften am Ende. Seit Januar unterrichtet er quasi durch, nur einmal hat er fünf Tage frei gehabt. Und die Arbeit ist mehr geworden, nicht weniger, weil sie, während die Schule geschlossen war, alle Onlinekurse angeboten haben und jetzt mit Kleingruppen vor- und nachmittags arbeiten, dazu kommen EinzelschülerInnen und Online-Literaturkurse.
Ich habe gefragt, ob es wenigstens mehr Geld gäbe.
Im Gegenteil. Es gibt weniger. Argumentation der Schule: Durch die kleineren Gruppen haben wir weniger Einnahmen, also müssen wir die Ausgaben kürzen.
Vollkommen logisch. Merkwürdige Idee von diesen Angestellten, dass sie begrenzte Ressourcen haben und noch dazu gern davon leben können würden. Wer schon das Glück hat, in Venedig zu wohnen, sollte seine Ansprüche ansonsten nicht zu hoch hängen. È il prezzo da pagare – das ist der Preis, der dafür zu zahlen ist.
Deshalb können wir Alberto nur noch eine Woche genießen, dann hat er endlich Sommerurlaub – eine ganze Woche, und wir bekommen eine Vertretung, o je, o je. Ich hoffe, es ist Damiano, der muss im Moment hier als Pförtner und Fiebermesser arbeiten, dabei unterrichtet er so gut.
Wenn ich mir das so durchlese, mäandere ich schon wieder ganz schön. Struktur, Frau Hagemann, Struktur!
Vorhin durften wir alle einen Kurzvortrag halten, um uns zum freien Sprechen zu ermutigen. Wir sollten über einen Zeitschriftenartikel unserer Wahl referieren. Ich hatte einen über portugiesische Feuerwehrziegen vorbereitet, habe aber gesagt, ich könnte entweder das erzählen oder zeigen, wie man einen einfachen Dreierknoten zeichnet.
Sie wählten den Knoten. Meine ganzen Vokabeln wie „verkohlte Kadaver von Kühen“ (carcasse carbonizzate di mucche), Waldbrände (incendi boschivi) und „das Haus ging in Rauch auf“ (la casa andava in fumo) waren damit hinfällig. Aber die KollegInnen konnten danach Dreierknoten. Luca, unser 18jähriger Youngster, hat ein großartiges zweifarbiges Exemplar in sein iPad-gezeichnet.
Keinesfalls möchte ich nun mit der Venedig-Berichts-Tradition brechen, die Mails mit schlimmen Dingen aufhören zu lassen.
Ihr erinnert euch, dass gegen die durch besinnungslos fütternde Touristen verschärfte Taubenplage auf dem Markusplatz ein wohlmeinender Bürgermeister mal diese großen und schönen Möwen eingeführt hat?
Ich konnte nun selbst beobachten, dass sie ihren Job sehr pflichtbewusst erledigen.

Mitten auf dem Markusplatz fand diese reizende kleine Hausschlachtung statt.
Und weil nicht immer genug Tauben da sind, aber fast immer genug TouristInnen, durfte ich auch schon zwei tätliche Luftangriffe auf mein hervorragendes Thunfisch-Oliven-Tramezzino vom Café Rosso erleben. Ich konnte es aber für mich sichern und bin nicht verhungert.
Ich hatte euch so blauäugig geschrieben, ich würde euch auf dem Laufenden halten, aber das ist gar nicht so einfach. Wenn ich nämlich den ganzen Tag rumlaufe, ohne Computer, und die Wärme genieße und furchtbar viele Fotos mache, abends erst so spät zurückkomme, dass es gerade noch zum Kochen und Essen reicht, und morgens doch für meine Verhältnisse früh los muss, weiß ich überhaupt nicht, wann ich schreiben soll.
Jetzt sitze ich seit drei Stunden auf der Schul-Terrasse unterm Segeltuchdach, höre Livello 1 mit halbem Ohr zu und gehe erst hinterher Stadtbummeln. Damit zumindest die von euch, die drauf warten, was zu lesen kriegen.
Seid umarmt aus der Ferne, ich grüße euch alle herzlich!
Julia












