Venedig 22.-25.9.

22.9.

Hallo ihr Lieben,
der große Unterschied zwischen Sommer und Winter, wenn man einen Blog über die Erlebnisse in Venedig schreiben will, ist, dass man im Winter freiwillig, weil mit Nase voll vom Frieren, ins heimische Mietzimmer zurückkehrt und dort Zeit zum Schreiben hat. Selbst wenn es auch da nicht furchtbar warm ist. Jetzt hingegen könnte jeder Tag der letzte sein, an dem man gern draußen ist. In der Tat fängt es morgens inzwischen kühl und grau an, und man denkt: „Och schade, das wars mit dem Sommer.“ Und freundlicherweise kann man die Thermoweste dann doch irgendwann wieder in den Rucksack packen und sich draußen in die Sonne setzen. Außer wenn es zwischendurch so niagarafallmäßig gießt wie gestern Abend.
Und da ist dann einfach wenig Gelegenheit zum Schreiben, außer man nimmt den Computer mit und setzt sich auf die Schulterrasse zwischen Oleander und Weintrauben.


Der heutige Ausflug ist jedenfalls schon mit Fragezeichen angesetzt. Wenn es gießt (se piova a dritto), fällt er aus. Wenn es nur nieselt (se pioviggina), findet er statt. Alberto hat uns schon gewarnt, dass der Maßstab für „gießen“ und „nieseln“ in Italien verblüffend anders ist als anderswo. „Aha“, sagte ich, „du meinst, gestern Abend, das war Nieseln?“ „Ieri?“ sagte er, „Questo era l’apokalissi!“ (Ich erinnere daran, dass Italiener nicht gern mehr als einen Konsonanten pro Silbe haben und deshalb aus so unsanglichen Konsonantenhaufen wie „ps“ immer vereinfachend ein „ss“ machen. Und so griechische Unarten wie Ypsilons müsste man ja „issilone“ aussprechen und gibts von daher von vornherein nicht.)

Wir haben schon den Anfang eines Romans von Cesare Pavese gelesen, in dem furchtbar viel historische Weinbau-Gerätschaften vorkommen, was immer sofort den Eindruck erweckt, man hätte einen entsetzlich unzureichenden Wortschatz. Jedenfalls ist ein „cavagno da vendemmia“ ein Traubenlesekorb (der bestimmt auch auf Deutsch einen Eigennamen hätte, der mir unbekannt ist) und ein „torchio“ eine Traubenpresse. Wenn man sagt, man habe jemanden über etwas ausgequetschrt, sagt man hier, man habe ihn unter die Traubenpresse gepackt: „l“abbiamo messo sotto torchio.“ Womöglich steckt auch unser „Wir haben ihm die Daumenschrauben angelegt!“ implizit mit drin.

Jedenfalls strotzt der Roman „La luna e i faló“ (Der Mond und die Landwirtschaftsresteverbrennfeuer) vor wohlgesetzten und eleganten Formulierungen, die das Herz erfreuen, wenn man sie erstmal verstanden hat. Allerdings dauert es bis dahin gewöhnlich so lange, dass ich zu Haus das Buch längst zur Seite gelegt hätte.

Kater Karlo hat, da er an mein Bett nicht mehr ran konnte, jetzt Lauras Bett für seine Pfützen erkoren. So dass auch sie anfing, ihr Zimmer abzuschließen. Ebenfalls mit dem Badezimmerschlüssel.
Ansonsten ist er aber ganz freundlich und lässt sich streicheln.

Beim Ausflug mit Marina zum obigen Platz (San Giovanni e Paolo, mit der Fassade vom Krankenhaus und der Scuola grande San Marco, die ihr hier seht), konnten wir Marina kaum zuhören, weil die fußballspielenden Kinder so viel Aufmerksamkeit abzweigten. Vor allem, als eins seinen Fußball anstatt gegen die Sarkophage der Kirchenfassade in den Kanal schoss und dann verzweifelt von Brücke zu Brücke rannte, um ihn irgendwo wieder rauszufischen. Der Ball trieb friedlich immer weiter mit dem Wind, dieweil der kleine Junge wie Spiderman an den Ecken der Häuser über dem Wasser klebte und mit einem Fuß nach dem Ball tastete.
Irgendwann war er wieder da und kickte ins Sarkophag-Tor, er hat es also hingekriegt, bevor der Ball die Lagune erreicht hatte.

25.9.
Gestern war ich mit Rena beim Workshop „Monotipo Venexiano“ (Venezianische Monotypie) in der Werkstatt von Roman Tcherpak. Wer gucken will, kann das hier auf seiner Facebook-Seite oder hier im kurzen Video.
Wir fingen ein bisschen später an, weil Rena irgendwo mit dem Vaporetto festhing, aber der Meister war da recht entspannt und qualmte derweil noch seine Werkstatt mit Substanzen fraglicher Legalität voll.
Die unverputzten Ziegelwände hängen dicht an dicht voller Schwarzweißdrucke einschlägiger und schöner Venedig-Motive, die zwischen holzschnittartigen Kanten und wolkig diffusen Flächen changieren, alle auf dickem Büttenpapier, das eine Freude zu sehen und zu berühren ist. Alle paar Minuten drückt ein Touristenpaar sich die Nase an der Scheibe platt und sagt: „Oh, guck mal!“
Ja, meistens auf Deutsch. Das ist gerade ziemlich zweisprachig hier. Noch ein paar Franzosen, und das wars so ziemlich.

Ich habe Rena am Anfang der Via Garibaldi abgeholt, einer der beiden großen Prachtstraßen, die Napoleon und Genossen hier hinterlassen haben. Sie haben, aus angeblich hygienischen Gründen, überall mal zwischendurch einen Rio zugeschüttet, hier sogar einen ziemlich breiten, und erhielten so – schöner Zufall! – eine breite Straße, die sich trefflich für Militärparaden eignete. Das wäre ja sonst überhaupt nicht gegangen in Venedig! Man marschiert zu viert nebeneinander los, mit Trommeln und Pfeifen und Tuba, und dann verengt sich die Gasse zu Schulterbreite mit überhängenden Mauervorsprüngen, und alle Soldaten müssen sagen: „Oh, Moment. Nach Ihnen, mein Herr. Nein wirklich, ich bitte Sie! Hups, meine Tuba! Wie krieg ich die Beule jemals wieder…. nein, bitte, schlängeln Sie sich doch vor!“ Das würde einfach nicht sehr beeindruckend wirken.

So aber eilten Rena und ich unbehindert bis ganz ans Ende, da wo plötzlich der Rio wieder an die Oberfläche kommt, und drängten uns am rechten Ufer an Second-Hand- und Schmucklädchen vorbei bis zum Atelier „Oiavoi“.
Der Künstler gab uns Schürzen in praktischem Schwarzgrau mit MV-Monogramm und das handgeschriebene Rezept für die Technik und alles, was man dazu braucht, zum Abfotografieren. Dann legten wir los, beschellackten die Rückseite von lasergedruckten Venedigfotos, möglichst ohne dabei alles unter Schellack zu setzen, föhnten, entfernten das oberste Blatt des Unterlage-Zeitungsstapels, gummierten die Vorderseite (ohne dabei alles unter Gummilösung zu setzen und ohne irgend ein Fleckchen auszulassen), föhnten wieder, bis das Papier knisterte, und rollten dann dicke schmierige pechschwarze Druckfarbe drauf.

Das alles war deutlich trickier als es hier klingt. Die erste Lage muss nämlich einfach zügig verteilt werden, aber nicht bis zum Rand, damit es keine Schweinerei gibt, und dann darf man bloß nicht weiter zügig verteilen, sondern muss mit aller Kraft und allem Gewicht diese Walze ins Papier stemmen, damit auch das letzte Fleckchen Ölfarbe platt- und in die Poren des Papiers gequetscht wird. Jedenfalls da, wo das Blatt nicht von Gummi bedeckt ist. Also überall, wo die Plastikteilchen des Laserdrucks das Papier schon abgedeckt haben. Rena war liebevoll und zartfühlend mit ihrer Walze, und Roman sagte immer: „Richtig draufdrücken. Mehr Gewicht! Noch mehr!“ Und er zeigte es uns und lehnte sich auf seine Walze, dass der Glastisch sich mehrere Zentimeter durchbog. Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass Glastische sich überhaupt biegen KÖNNEN! Er meinte aber, der Tisch hielte das schon aus. Da er das seit zwanzig Jahren macht, wirds wohl stimmen.
Wenn die Farbschicht absolut lückenlos tiefschwarz ist (notfalls mit dem Daumen und viel Gewicht nachbügeln), sprüht man eine Menge Wasser auf die ganze Sache und fängt dann mit einem äußerst ramponierten Aquarellpinsel an, die Farbe extrem sanft und liebevoll wieder runterzunehmen. Und wenn das leicht geht, hast du in der Runde davor zu wenig aufgedrückt.
Bei mir ging es ziemlich einfach, was ich ganz angenehm fand. Alle 30 Sekunden muss man den Pinsel mit einem Pabypopotuch reinigen (mit einem unbenutzten), damit er wieder Farbe aufnehmen kann. Und Stück für Stück schält sich aus dem nachtschwarzen Schlick wieder die venezianische Gasse mit der Wäscheleine oder die Kirche Santa Maria della Salute raus. Das ist toll, weil es sich so ANFÜHLT, als würde man malen, bloß sieht das Ergebnis viel überzeugender aus als sonst.
Man muss aber vorsichtig sein, dass man das Papier nicht durchpinselt, es ist immerhin nur normales Druckerpapier trotz aller Vorbehandlung.
Und wenn dann nach erstaunlich langer Zeit die schwarze Farbe weggeputzt, das Papier noch nicht durchlöchert hat und das Motiv klar zu sehen ist, dann kann man drucken. Entweder mit so einer Art Wäschemangel oder einfach mit einem Esslöffel auf der Rückseite des auf die „Druckplatte“ gelegten Büttenpapiers reibend.

Und dann kommt so was zum Vorschein.

Aha. Da ist wohl was noch nicht ganz perfekt gelaufen.
Roman warf einen Blick aufs Blatt und sagte: „Fester aufdrücken beim Rollen, sanfter pinseln“. Sinngemäß. Die Konversation war in wildem Mix aus Italienisch, Deutsch und Englisch, je nach Erfordernis bzw. je nachdem, welches Wort einem zuerst einfiel.
Rena und ich fingen also mit dem zweiten Exemplar an, diesmal schon ohne Anleitung. Na ja, fast ohne. Immer wenn wir was ganz furchtbar anders machten als gezeigt, sagte er: „Mehr drücken. Noch mehr. Das wird so nichts. Ohne Druck funktioniert das nicht.“ Na ja, wenn man genau überlegt, ist es ja auch eine Drucktechnik. Keine Farbverteiltechnik.
Und siehe da, beim zweiten Mal war es schon extrem viel schwieriger, die Farbe wieder runterzukriegen. Sie klebte am Papier wie Pech. Frustrierend, aber ein gutes Zeichen. Wenn man dann WIRKLICH viel Wasser aufs Papier sprüht und WIRKLICH oft den Pinsel reinigt, geht es halbwegs.

Roman pinselte immer mal mit, und es sah spielend leicht aus. Mist. Wieder so eine Sache, die man erst ÜBEN muss, um sie zu können!
Jedenfalls war der zweite Druck dann schon so:

Kein Vergleich zu vorher!
Die fette schwarze Fledermaus oben rechts im Bild war ein Fleckchen ohne Gummilösung.

Hochbefriedigt über den Nachmittag, wenn auch im vollen Bewusstsein der weiteren Verbesserungswürdigkeit unserer Druckfähigkeiten zogen wir wieder ab, nachdem wir noch das Hinterzimmer seiner Werkstatt mit den „richtigen“ Kunstwerken besichtigt hatten, und machten uns auf den Weg zu Kirche Santa Maria Formosa, wo der Kunstgeschichtsstpaziergang mit Marina stattfand. Ein bisschen hektisch flitzten wir durch eine Menge ziemlich unübersichtlicher Kreuz- und Quer-verbindungen, schafften es aber genau bis sechs.

Marina verblüffte uns mit der Auskunft, dass der Name der Kirche „die wohlgeformte heilige Maria“ bedeutet. Wahlweise auch „die gutgebaute heilige Maria“. Oder die vollbusige oder üppige heilige Maria. Weil der Mensch, der sie hat bauen lassen, das wohl aufgrund eines Traumes gemacht hat, in dem sie ihm in – nun, nicht gerade in Pin-Up-Maßen erschienen ist, aber wohl doch in deutlich weniger umpustbarer Gestalt, als man das traditionell so kennt.
Gleich dahinter steht der Palazzo Querini Stampalia, der u.a. eine riesige Bibliothek beherbergt, mit 20.000 uralten Büchern, die man nur mit Vorbestellung, Leumundszeugnis und Handschuhen anfassen darf, und 400.000 anderen. Und sie hat bis in die Nacht und an Feiertagen geöffnet, damit man immer irgendwo seine Ruhe vor den Touristen haben kann.
Und in der angrenzenden Straße gibt es eine wahrhaft umwerfende Buchhandlung für gebrauchte und neue Bücher, die ich noch nicht kannte, und das ist eine Schande!
Sie ist ziemlich verwinkelt und mit zwei Hinterhöfen, in denen man zu Skulpturen zusammengeleimte alte Bücherstapel beklettern kann und soll, mit einem Gondelruder als Geländer, um den Ausblick über die Hofmauer zu genießen. Das ist das bläuliche Bild etwas weiter oben.
Und dies ist einer der Räume:

Mehrere Katzen arbeiten da mit, räkeln sich auf Bücherstapeln und animieren die Kunden zum Kauf.
Da die „Acqua-Alta“-Buchhandlung inzwischen in etlichen „Geheimtipp!“-Büchlein besprochen wurde, ist es kein Geheimtipp mehr, sondern eine weitere Besucherattraktion und hat deshalb jetzt auch Gondel-Kühlschrankmagneten, historische Venedigdrucke und Reiseführer, aber dennoch: Das ist mal ein Laden, der verblüfft.

Heute war der letzte Tag mit Alberto, und er lebte sichtlich auf im Gedenken an den bevorstehenden Urlaub. Er schüttelte wieder Seitenpfade der Grammatik und Wortbedeutungen aus dem Ärmel, erklärte uns, wieso in italienischen Zeitungen statt der Ministerien oder Regierungsorgane immer der jeweilige Hügel Roms genannt wird oder der Name der Villa, in denen sie residieren („Viminale“ ist also verschlüsselt für „Innenministerium“, „Quirinale“ steht für den Präsidentenpalast und „Palazzo Chigi“ für den Ministerrat) und ließ uns die Bedeutungsfeinheiten von „divulgare“ (die Information rauslassen), „pubblicare“ (veröffentlichen), „proclamare“ (verkünden) und „rivelare“ (enthüllen, sichtbar machen) am Duft unterscheiden. Ist eine Sache brauchbar, nützlich oder nötig? Ist dieses Internetportal eine Goldgrube, eine Quelle, eine Ausgrabung oder nur eine Möglichkeit?
Dinge, die man im Deutschen gelassen mit Intuition und Sprachgefühl erledigt, sind in einer Fremdsprache eine Goldgrube an Stolpermöglichkeiten verschiedenster Art.

Hat man sich so sehr den Kopf zerbrochen, dass man medizinische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, kann man hier

welche finden. Das ist der Eingangssaal des Krankenhauses. Wer wollte sich angesichts solcher baulicher Gegebenheiten etwa kleinlich über etwaige Qualitätsmängel der Versorgung beschweren? Außerdem ist es eins der wenigen Krankenhäuser weltweit, in das man mit dem Boot reinfahren kann. Von hinten gibt es eine eingebaute Wassergarage für die Ambulanzboote.

Nachher treffe ich mich mit Massimo und Stefania! Die längjährigen MitleserInnen erinnern sich vielleicht, dass das „mein“ Chorleiter von damals war, mit seiner Frau. Leider hat sich die Zusammenarbeit mit ihm und dem Ensemble Monteverdi aufgelöst. Er hatte das Ensemble einem jungen Kollegen „geliehen“ zum Üben, und der Chor hat dann beschlossen, mit dem Neuen weiterzumachen statt mit seinem Gründer. Das schmerzt bestimmt sehr. Massimo ist jedenfalls nicht mehr gut auf einige aus dem Chor zu sprechen.

Für heute erst mal Schluss und viele liebe Grüße!
Julia

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