
Hallo ihr Lieben,
der Herbst schleicht sich mit Macht in die Stadt. Heute wusste ich glatt wieder, wie sich hier der Januar angefühlt hat. O.k., übertreiben wir nicht: der späte Februar. Nasses Dauerfrieren.

Zum Glück habe ich gestern noch den vom letzten Wochenende verschobenen Ausflug nach Lio Piccolo gemacht, ihr erinnert euch, die Cavallino-Halbinsel nördlich vom Lido mit ihrer angeblich schönen Landschaft, die ich selbst mal sehen wollte.
Cavallino heißt übrigens Pferdchen (Cavallo – Pferd, -ino verkleinert alles, siehe Violino, Bardolino, Cammino…)
Sinnlose Anmerkung: -etto verkleinert auch alles (siehe Canaletto, Tintoretto, Geppetto). Also ist auch ein Cavaletto ein Pferdchen. Meint aber in dem Fall keine Halbinsel, sondern nur einen Notenständer.
Das Boot Richtung Cavallino-Treporti fährt über Murano und Burano. Bis dahin war es sehr voll.

Buranos schiefer Kirchturm scheint noch schiefer geworden zu sein.

In Treporti steigt man an einem riesigen Parkplatzgewirr mit Yachthafen aus und ist erstmal verwirrt. Wo sind die versprochenen Fahrradverleiher?
Es stellte sich raus, man kann einen anrufen, und der bringt einem das Fahrrad dann hin und holt es auch wieder ab. Ich rief also an. „Klar!“, sagte er. „Aber nicht jetzt. Jetzt esse ich. Ab vier Uhr wieder. Morgen habe ich zu, Montag geht aber auch.“
Es war kurz nach eins. Ich wollte jetzt nicht drei Stunden den Parkplatz angucken, also bin ich erstmal zu Fuß losgelaufen. Und – was soll ich sagen? – die Landschaft war irre, seltsam und unbeschreiblich. Und sehr unpraktisch für praktisch alles. Fortbewegen kann man sich mit dem Boot in den nassen Stellen und ansonsten fast gar nicht, nur auf der einzigen zwei Meter breiten Straße, die man sich am Wochenende mit vielen Fahrrädern und ein paar Autos teilt. (Weiter rechts gibt es noch ein paar andere Straßen, aber da am Ufer entlang ist sonst nichts.)

Bei einem seitlich abzweigenden Trampelpfad habe ich eine Weile Pause auf der Treppe zu ein paar Booten gemacht und den Dolomitenblick mit Sumpf davor genossen.

Lio Piccolo selbst, das vom Schiffsanleger ungefähr 6 km entfernt ist, besteht aus einem Gutshaus (geschlossen und zugenagelt), zwei anderen Häusern (bewohnt), einem Mini-Museum (hauptsächlich Tonscherben, von den alten Römern bis zum 19. Jahrhundert, sowie eine Landkarte mit Sehenswürdigkeiten), einer Kirche samt Turm und zwei Holzschuppen. Es gibt auch eine Gästetoilette, was toll ist, denn die Landschaft hat nicht viele diskrete Verstecke zu bieten. Und hinter dem Toilettenhäuschen beginnt ein Trampelpfad auf einem Spielzeug-Deich, der in großem Bogen vier oder fünf Kilometer um das Dorf herum durch diese „Land“schaft führt. Vielleicht sollte man sie Meerschaft nennen oder Sumpfschaft.
Es haben allen Ernstes Leute versucht, da zu wohnen:

Aber offenbar haben sie es aufgegeben.
Über viele Wasserläufe führte etwas, das sicher mal als Brücken gemeint gewesen war, anscheinend sogar für Fahrzeuge. Da lag jeweils eine riesige rostige Eisentonne im Wasser, schwimmend, zu der hin und von der weg jeweils zwei völlig durchgerostete parallele Eisenstege führten, ähnlich wie Auffahrschienen für einen Abschleppwagen, bloß länger und nicht so verlässlich. Sind da allen Ernstes mal Leute mit Treckern oder Ähnlichem drübergefahren? Man möchte es sich nicht ausmalen.

Jedenfalls macht diese Landschaft eindrücklich klar, warum Venedig da steht, wo es steht, und warum die Gegend schon seit den alten Römern durchgehend besiedelt ist. Wer hätte beim Anblick solcher Baugrundstücke:
anders reagieren können als mit dem begeisterten Ausruf: „Perfekt! Ideales Bauland! Lasst uns da mal eine Stadt hinsetzen, eine große und schöne, mit 120 Kirchen, 300 Palästen und jeder Menge Mietshäusern bis zu, sagen wir mal, sieben Stockwerken! Das wird toll!“
Sagen wir so, wer so richtig gern Sümpfe trockenlegt und Kanäle zuschüttet und Eichenpfähle, die man von weitweg heranschaffen muss, in den Booden rammt, der hat da eine ideale Spielwiese gefunden.
Und Angreifer hatten es tatsächlich schwer, weil sie nie wussten, WIE sie hätte angreifen sollen. Schiffe liefen auf Grund, Pferde versanken im Schlick, zu Fuß (halb laufend, halb schwimmend) ging nur ohne Rüstung und unbewaffnet und führte zu Malaria wegen der Mücken. Floß wäre die einzige Lösung gewesen. Das ist aber nicht einschüchternd. Und man verfährt sich dauernd, weil diese Lagune echt unübersichtlich ist und für Uneingeweihte überall sehr ähnlich aussieht.
Und alle Flöße, die ankamen, wurden von den Venezianern sofort auseinandergebaut und zu Pfählen für die Fundamente oder zu hochglanzpolierten Schnörkelschränkchen verarbeitet. Von daher war erst der Bau der „Ponte della Libertà“ das Ende der Freiheit von Invasoren (außer Sissi und Napoleon).
Jetzt ist die Stadt bekanntlich gekapert von barbarischen Völkern.
Himmel, hab ich viele schwäbische und bayrische Ehepaare auf Mountainbikes getroffen bei der Wanderung! Die schwätzen immer so ungeniert miteinander und unterhalten sich über die Fische, die da aus den Tümpeln springen und von denen man denkt, sie müssten eigentlich mit dem Bauch über den Sand schrappen, weil es so flach ist. Und wenn er dann sagt, „Doch, da ist einer, ein ganz großer!“, und sie: „Nee, da ist nichts, hätt ich doch gesehen.“ Und er: „Dochdoch, eben war er noch da, wo ist er denn hin?“, und ich: „Da vorne!“ – dann haben sie immer sehr überrascht geguckt.

Jedenfalls habe ich den Fahrradbringer gar nicht mehr angerufen, weil es zu Fuß dann doch auch sehr schön war. Ein richtiger Wandertag.
Und heute früh war ich in San Marco in der Messe. Die Kirche ist für Touristen im Moment geschlossen, und alle Angestellten sind in Kurzarbeit. Seit März. Massimo fällt die Decke auf den Kopf, obwohl er weiterhin viele verschollene Komponisten ausgräbt und die Manuskripte am Computer in eine von Chören nutzbare Form bringt. Im Museum arbeiten darf er gerade nicht. Immerhin gibt es Geld, wenn auch noch weniger als sowieso schon.
Die Kirche macht nur zu den Gottesdiensten auf, dann aber mit allem Prunk und Pomp und jeden Sonntag mit Chor. Jawohl, wie auch immer die das mit dem Proben machen. Sie haben doppelchörige Gabrielis und ähnliches gesungen, also genau die Stücke, die für San Marco mit seinen vier Emporen geschrieben worden sind. Rechts oben ein Chor, links oben einer, eine schwarzhaarige Dirigentin (oder vielleicht auch ein gut rasierter Dirigent mit Locken, wer will das bei den Entfernungen schon unterscheiden können?) hielt beide Parteien durch energisches Wedeln zusammen, und wiewohl es hinten bei mir alles ein bisschen verschwommen ankam, war es doch unwahrscheinlich schön, mal wieder lebendigen Gesang zu hören. Und dann noch achtstimmig und gut gesungen.
Ich heule ja im Moment schon los, wenn auf der Straße ein einsamer Bratscher Bach-Suiten spielt. (Ein wunderbarer Musiker, der hier, weil natürlich auch ansonsten arbeitslos, ab und an auf den Plätzen steht.) Und dann so ein Chor!
Von den gesprochenen Teilen der Messe war nicht viel zu verstehen, da hätte ich vorn sitzen müssen. Immerhin durfte die Gemeinde (alle maskiert und in Regiestühlen mit einem Meter Abstand rundrum) bei einigen Wechselgesängen mitsingen. Jedenfalls wedelte der Vorsänger immer auffordernd und zeigte alle Tonhöhen so genau an, dass man die Melodien gar nicht zu kennen brauchte. Die meisten schwiegen trotzdem, aber das ist bei uns ja auch nie anders.
Am Ende der Messe wurden alle ganz schnell rausgeschmissen, vor allem die, die durch hektisches Fotografieren zu erkennen gaben, dass sie DOCH Touristen waren und sich nur unter dem Vorwand nicht zu unterdrückender Frömmigkeit in die Messe reingeschmuggelt hatten.
Ich bat den Rausschmeißer, dem Chor ganz herzlich von mir zu danken, und zu meiner Überraschung sagte er: „Die kommen gleich runter. Warten Sie einfach hier und sagen Sie es ihnen selbst.“, und dann schleppte er die ersten zwei vom Chor, die ankamen, zu mir hin.
Ich zerfloss natürlich mal wieder in Tränen und hatte das Gefühl, bald die Kirche zu überschwemmen. Ich verstehe nicht, wie andere Leute das hinkriegen, so was zu unterdrücken, das geht einfach nicht.
Jedenfalls freute es die beiden anscheinend, dass sie mit ihrem Singen die Leute bewegt hatten, sie fragten ein bisschen, wo ich herkäme und was ich machte, und versprachen, dem restlichen Chor weiterzugeben, wie schön das gewesen sei.
Und dann kam ich zum Ausgang, und da war tatsächlich alles nass. Aber so richtig. Man kam nur mit Steg aus der Kirche. Nanu, dachte ich, das war doch vorhin noch nicht so?

Es stand noch nicht der ganze Markusplatz unter Wasser, aber doch weite Teile, und es gluckerte munter immer weiter aus den Löchern in den Bodensteinen. Barfüßige Touristinnen staksten von einem vorausschauend aufgebauten Steg zum anderen rüber, die Händler mit den Gummigaloschen zum Überziehen machten schlagartig gute Geschäfte. Und als ich die Gasse hinterm Markusplatz entlanglief, um von der anderen Seite aus zu gucken, fing sie an, vor mir UND hinter mir vollzulaufen, so dass ich zugesehen habe, mich in höher gelegene Gegenden zurückzuziehen.

Es fing dann ziemlich an zu regnen, und ich war sehr froh, dass meine frisch gewaschene Regenjacke (eins der Opfer von Kater Karlos Pfützen) wieder trocken war, so dass sie jetzt wieder nass werden konnte.
Die Regenschirmhändler in Venedig sind die beste Wetter-App. Wenn sie alle kollektiv plötzlich Knirpse mit Venedig-Motiven vor die Läden hängen, weiß man, dass es gleich regnet.
Ich bin dann noch mal – ganz passend – in die Aqua-Alta-Buchhandlung gegangen und habe nach leicht zu lesenden Krimis Ausschau gehalten. Aber Stieg Larsson auf Italienisch schien mir doch eine unpassende Kombination. Und es war so voll da drin, dass man ständig Platz machen musste, damit andere zur Kasse durchkamen, und da bin ich bald wieder gegangen.

Auch bei Laura in der Wohnung ist es schlagartig frostig. In Italien gibt es nämlich Heizgesetze. Das Land ist in sechs Zonen unterteilt, die völlig unvorhersehbar über die Landkarte verteilt sind. Drei kleine Zipfel Siziliens sind Zone B, andere Stellen Zone C, die hochgelegenen Stellen des Appenin sind E oder so und der äußerste Norden F. Und für jede Zone ist ein verbindliches Datum festgelegt, ab dem man heizen darf und bis wann. Und wie viele Stunden am Tag. In Stufe B glaub ich 1.12.-29.2. bis zu 6 Stunden am Tag. In Venedig immerhin ab dem 15.10. und bis zu 12 Stunden – aber es ist erst September. Pech gehabt.
Da diese Gesetze vor der Erfindung der Klimaanlagen erlassen wurden, gibt es originellerweise keinerlei Einschränkungen für den Gebrauch dieser Geräte, unabhängig davon, ob sie mehr oder weniger Energie verbrauchen als das Heizen.
Aber Laura hat mir ein Rekord-Ding von Piumino hingelegt, eine Federdecke von vermutlich 2,20 x 2,20 m, da kann mir nichts mehr passieren.
Morgen Abend wollen wir zusammen kochen, ein toskanisches Rezept, weil wir beide fanden, wir sähen uns sonst zu selten.
Maya, ihre Tochter, ist aus Rom zurück und freut sich riesig, da nächste Woche nun ganz hinzuziehen, sie hat nämlich einen von zehn Studienplätzen für Deutsch da ergattern können. Es gibt schon Leute mit seltsamen Vorlieben!
Viele liebe Grüße
Julia


