Venedig 1.-4.10.

2.10.
Diesmal hat es lange gedauert, bis die Schönheit der Stadt wirklich bei mir angekommen ist, bis dieses glückliche Erfülltsein und Staunen wieder voll da war. Zweieinhalb Wochen war ich hier und doch nicht ganz hier, oft mit den Gedanken woanders, innerlich kribbelig und unruhig. Erst in den letzten Tagen hat mich die Stadt wieder so am Wickel und rührt mich an, dass ich mitten auf einer kleinen Brücke in der Abendbeleuchtung mit sich im Wasser spiegelnden Laternen plötzlich ohne Vorwarnung feuchte Augen kriege vor Glück oder etwas anderem, Unbenennbaren. Jetzt würde ich gern noch länger bleiben.
Aber ich wollte mich ja auch mit Mati treffen, der Elfe mit den Bärenkräften aus dem englischen Baukurs. Nur ist die sehr schwer zu erreichen UND auf dem Sprung zu einem neuen Job in der Toskana. Noch weiß ich nicht, ob es morgen klappt.

4.10.
Ich war Teil eines Wunders. Und das Wunder bestand darin, dass nichts passiert ist.
Für gestern war nämlich Hochwasser angesagt, also so richtig hohes. Es war Vollmond, was anscheinend die Hochwasserneigung verstärkt, und Schirokko, was dieselbe Wirkung hat. Bei Ebbe ist das Wurst. Aber zweimal am Tag ist ja auch noch Flut. Und da kann man wohl in etwa abschätzen, wie viele cm überdurchschnittlich das wird. Für gestern waren 130 cm angesagt, was heißt, dass die Hälfte der Stadt überflutet wird.
Nun gibt es ja MOSE, das Milliardengrab in Form elektrischer Flutschleusen. Zwischen Cavallino und Lido, zwischen Lido und Pellestrina, zwischen Pellestrina und Chioggia. Seit den Sechzigerjahren in Planung, seit den Neunzigern sollte das Ganze fertig sein, war es aber nicht. Ganz offenbar gab es immer noch Leute, deren persönlicher Geldbeutel noch nicht genügend profitiert hatte, also wurde weitergebaut. Dank der Gelder von EU und italienischem Staat ließ sich das Projekt noch schön verlängern. Natürlich hätte man schon vor Jahrzehnten niederländische Spezialisten für wasserbremsende Systeme um Hilfe bitten können, aber „Will selbst, kann schon alleine!“ rief man einstimmig und schippte und schraubte weiter. Schon die letzten Male, als ich hier war, wurde das ganze Projekt nur noch als Lachnummer mit einer Mischung aus Verzweiflung und Galgenhumor betrachtet und allgemein angenommen, dass es einfach nie mehr fertigwerden und als ewige Baustelle in die Geschichte eingehen würde.
„Sowas gibts echt nur bei uns!“, hat Laura noch letzte Woche gesagt. Und dann war sie bass erstaunt, als ich ihr ein bisschen von Elbphilharmonie, Berliner Flughafen, Stuttgart 21 und dem Kölner Stadtarchiv erzählt habe.
Jedenfalls hatte wohl noch letzte Woche MOSE nicht funktioniert, war einfach nicht hochgegangen, obwohl man die entsprechenden Knöpfe gedrückt hatte. Letztes Jahr im November auch nicht, obwohl es da sehr nötig gewesen wäre.
Also sagten auch jetzt am Wochenende alle mit höhnischem Lächeln: „Na ja, womöglich funktioniert MOSE ja diesmal!“ – „Aber sicher doch!“, und schraubten kniehohe Bretter und Metallplatten vor die Ladentüren, über die man dann drüberturnen musste, wenn man Sehnsucht nach Glasnippes oder chinesischen Handtaschenklonen verspürte. (Die Ladenlandschaft hier hat sich, seit ich das letzte Mal in der Stadt war, noch entschieden weiter weg von brauchbaren Dingen, etwa schönen Lampen oder Möbelbezugsstoffen hin zu weiteren Eisdielen, Schokoladenläden und chinesischen Taschenläden mit zigfacher absolut identischer Auswahl verlagert.)

Nun wollte ich ja Samstag Morgen fahren und mich mit Matilde treffen und war schon ganz bekümmert, dass ich dieses Hochwasser um zwei Stunden verpassen würde. Und schließlich wollte ich ja auch gern nachsehen, ob Enricos Hanf-Kalk-Lehmputz die Flut überleben würde.
Dann schrieb Mati, ob wir uns nicht statt Samstag auch Sonntag treffen könnten. Hurra! Ich wollte sowieso am liebsten noch deutlich verlängern. Und Laura hatte nichts dagegen, mir das Zimmer noch eine Nacht länger zu vermieten.
Also zog ich mir am Samstagmorgen Luisas Segelschuhe und einen kurzen Rock an sowie warme Weste und Regenjacke. Der Schirm schlug sofort um, den packte ich gleich wieder zusammen und stemmte mich gegen den Wind.
Um kurz nach zehn wollte ich erst noch zur Kirche Santa Maria dell’ Orto, in der Tintoretto und seine Tochter Marietta begraben sind. Sie soll eine der schönsten der Stadt sein, und Freitag war sie geschlossen gewesen, als ich ankam. Aber, wen wundert’s? Sie war auch jetzt geschlossen, obwohl sie um zehn hätte öffnen sollen.
Für zwölf hatte ich mir einen Besuchstermin für die Dachterrasse vom Fondaco dei Tedeschi an der Rialtobrücke gebucht, davor reichte die Zeit noch, um über das steigende Wasser auf dem Marcusplatz zu staunen. Mit um die Knie schlabberndem, tropfendem Rock und sehr kalten nassen Füßen quatschte ich durch Regen und Pfützen. Der Marcusplatz war voller Touristen in Gummistiefeln, zum Teil bis zur Hüfte, oder grellbunten PVC-Überziehern für die Schuhe. Außerdem reichlich Kamerateams und Fotografen, die ihre Stative schon mal in Position brachten oder versuchten, in abenteuerlichen Kauerpositionen an den Gullis das herausblubbernde Wasser zu filmen.

Es wurde elf und viertel nach elf, und das herausblubbernde Wasser blieb nur fingertief. Obwohl der Sirenenalarm am Morgen mit seinen drei ansteigenden Tönen in grauslich zu kleinen kleinen Terzen ganz klar auf Hochwasser Stufe 3, eben 130 cm hoch und 50% Überschwemmungszonen, hingewiesen hatte. Es wurde halb zwölf. Kein Hochwasser. Die Fotografen langweilten sich sichtlich. Die TouristInnen standen etwas ratlos auf den Stegen. Oder auch daneben, es war ja egal. Die Kapelle vom Café Florian spielte „Somewhere over the rainbow“ hinter einer regen- und windbremsenden Plastikplane.
Ich machte mich auf zur Rialtobrücke, zum Glück war es jetzt trocken, und ließ mir am Eingang zum Fondaco mal wieder Fieber messen. Da sah ich das Schild: Dachterrasse nicht begehbar wegen des Unwetters.
Was denn bitte für ein Unwetter? Es war inzwischen fast sonnig!

Jedenfalls nützte es nichts, meine letzte Chance auf diesen Ausblick von oben, entschwand im Nichts. Angeblich war es wahnsinnig rutschig und dadurch lebensgefährlich auf diesem Dach. Oder sie wollten Personal einsparen. Resigniert ging ich wieder zurück zum Marcusplatz. Keine Spur von Hochwasser. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass MOSE hochgegangen war. Oder dass die Vorhersage sich vollkommen vertan hatte. Ich wusste nicht, wie ich es rauskriegen sollte, und ging mich erstmal trockenlegen.
In langer Hose und mit Stiefeln ging ich später wieder los. Eine Ladenbesitzerin fragte ich, ob etwa MOSE funktioniert hätte, weil es so unüberschwemmt sei. „Ja,“, sagte sie, „zum ersten Mal hat MOSE funktioniert.“ Wahnsinn. Sie stimmte mit mir überein, dass das doch super für die Stadt und ihre BewohnerInnen und LadenbesitzerInnen sei, sagte aber nüchtern: „Mal sehen, bis wann es funktioniert.“ Ach richtig. Der Treppenlift an der Calatrava-Brücke (auch ein Millionengrab) hatte genau zwei Wochen seinen Dienst versehen, dann noch zehn Jahre in Plastik verhüllt vor sich hingerostet und ist jetzt abgebaut worden. Also gut.
Auch der Buchhändler der Libreria La Toletta (die heißt echt so), bei dem ich mir zum weiteren Spracherwerb ein Harry-Potter-Hörbuch erworben habe, sagte mit einer Mischung aus Feierlichkeit und Wehmut: „Zum ersten Mal seit 1200 Jahren war Venedig vom Meer getrennt. Für sechs Stunden.“ Er erklärte mir, dass noch gar nicht geklärt sei, wer in Zukunft entscheiden dürfe oder müsse, wann die Schleusenwände hochgefahren werden. Im Moment sei es noch die Planungsfirma, weil ja alles noch im Experimentierstadium („nello stadio sperimentale“) sei. Und Sonntag gebe es Hochwasser, weil die Schleusenwände da zur Abwechslung nicht hochgefahren würden. Oh verflixt. Aber noch einen Tag kann ich echt nicht warten.

Jedenfalls sah Enricos Putz erstklassig aus ohne den Stresstest, unter Salzwasser getunkt zu werden.

Und die Stadt war in ein leuchtend rotes Abendlicht getaucht, dass man nur noch hätte jubeln wollen. Hab ich auch getan, am Telefon, mit Barbara an der Strippe, und nur immer gesagt: „Und ich kann das nicht fotografieren, weil ich die Kamera am Ohr habe!“ Ich muss definitiv wieder auf Headset umsteigen.

Ein Mordsregenbogen überspannte den ganzen Himmel über der Basilica Santa Maria Gloriosa dei Frari, und rosa und aprikosenfarbene Wolken drängelten sich neben tiefblauen Himmelsflecken. Was für ein Abschiedsspektakel. Ich muss unbedingt wiederkommen. Schon zweimal muss in drei Sätzen 🙂

Trotzdem bin ich dann noch Kochen und Packen gegangen, das letzte Mal Chicchetti (Mini-Gnocchi) mit Gemüse an Lauras Gasherd, während Kater Karlo mir um die Knie strich und versuchte, mich zu einer Extra-Gabe Croccantini zu bewegen. Kein Wunder, dass er so voluminös ist.
Der englische Alex stand derweil in der Küchentür, und wir haben uns gegenseitig vom Leben erzählt. Sein komplettes Studium an der Ca’Foscari-Uni läuft online, er sieht praktisch keinen Menschen in echt und sitzt immer nur in seiner Mönchszelle. Denn die Seminare mit mehreren hundert StudentInnen dürfen im Moment nur ungefähr fünfzig reinlassen, dafür muss man sich quasi bewerben, und wer nicht reinkommt, kann über den Computer mitmachen. Aber es stört ihn nicht, er liest sowieso lieber Bücher über Philosophie.

Laura zieht jetzt weg aus Venedig. Auch mit zwei UntermierterInnen in der Wohnung und festem Job kann sie sich die Preise in der Stadt nicht mehr leisten. Ich vermute mal, demnächst ist die Wohnung bei AirBnB zu finden, wie so viele andere.

Mit Mati habe ich mich in Verona getroffen, statt zu ihr in die Berge in den ersten Schnee zu fahren. Es war ganz wunderbar. In England war mein Gehirn ja so zwischen Lehmbau-Lernen und Englischreden zermahlen worden, dass ich kaum einen italienischen Satz rausgekriegt habe, aber jetzt, mit herrlichem Eis auf der Piazza Navona neben der Arena unterm Baum, da ging es ganz leicht.
Einige von euch finden mich ja schon outdoorsüchtig und wenig zimmerkompatibel, aber gegen Mati bin ich ein Stubenhocker. Sie hätte nämlich durchaus Lust zu studieren, irgendwas mit Botanik und Heilpflanzen und ökologischem Gartenbau, aber dafür drinnen in Hörsälen sitzen zu müssen, womöglich am Computer tippend, geht für sie überhaupt gar nicht. Da fährt sie lieber noch mal WWOOFen und lernt in der Praxis.
Sie wollte ja auch schon ganz gern etwas von dem in England gelernten umsetzen, aber sie hat, seit sie von dort zurück ist, bei ihren Eltern gewohnt. Und der Vater hat sie streng ins Auge gefasst und gesagt: „Das Haus wird NICHT angerührt!!!!“

Damit schließe ich den diesjährigen Venedigbericht vorerst. Glücklicherweise sind für Oktober ein paar schöne Arbeitsmöglichkeiten aus dem Nichts erschienen, während ich dort war. Ich habe meine erste Online-Gesangsstunde gegeben, und es hat erstaunlich gut funktioniert, es kam noch eine Anfrage für Textcoaching, im Wechsel live und per Telefon oder Mail, ein weiterer Chor hat sich gemeldet, der trotz der aktuell erschwerten Umstände gern seinen Mitgliedern Stimmbildung ermöglichen möchte, ein für März abgesagter Kabarettauftritt im Schwarzwald wird in zwei Wochen nachgeholt, und Annette und ich machen tatsächlich ein kleines, coronakompatibles Konzert im Haus Buchenried, auf der Galerie des Foyers mit Mordsakustik. Während des Kreativkurses, den Edith und ich da sowieso schon geben.
Außerdem fängt heute Abend ein achtwöchiges Coaching an, in dem sich für mich hoffentlich Perspektiven auftun, was ich denn beruflich jetzt so machen kann. Und will. Das Ganze läuft auch wieder online, nur einer der Termine ist in Hamburg.
Was insgesamt mal wieder beweist, wie zwecklos es war, wegen platzender Berufschancen deprimiert und verzweifelt zu sein.
Wie Georgette Heyer in „The Grand Sophy“ so schön schreibt:
Lord Charlbury: „Sie raten mir also, nicht zu verzweifeln?“
Sophy: „Ich glaube nicht, dass ich jemals irgendwem raten würde zu verzweifeln!“

Viele liebe Grüße an euch alle! Bis demnächst auf dieser Welle – mit was auch immer.
Julia

P.S.:
Für alle die, die nicht wissen, was WWOOF ist: World wide opportunities on organic farms (z.B. https://wwoof.it/ für Italien.) Da kann man als Mitglied sehen, welche Bauernhöfe gerade Hilfe brauchen, was die so machen, und wenn etwa man lernen will, Käse zu machen oder Kartoffeln zu häufeln oder Gemüse zu fermentieren, sucht man sich den entsprechenden Hof, klärt die Termine und arbeitet da 4-6 Stunden am Tag gegen Kost und Logis und Lernen. So kann man sich dann Stück für Stück durch Australien arbeiten oder durch Schweden oder was immer man so vorhat. Und die Landessprache lernen mit so abwegigen Vokalbeln wie Rübenverziehen und Weintraubenpresse.

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