15.3.2020
Hallo ihr Lieben,
heute Nachmittag ist auch noch Korbach abgesagt worden. Damit fühlt sich die ganze Wanderung auf einmal ziemlich sinnlos an. Ich habe diese Strecke ja nicht wegen ihrer landschaftlichen Schönheit ausgewäht, sondern weil ich halt in Korbach und in Berlin zu sein hatte.
Nun trifft es sich aber, dass die landschaftliche Schönheit heute spektakulär war. Das Eggegebirge tut einiges dafür, seinem Namen gerecht zu werden. Es hat viel mehr tolle Felsen und weite Ausblicke als der Teutoburger Wald. Verschärfend kam natürlich hinzu, dass es heute trocken, sonnig und fast frühlingshaft war. Und Sonntag. Die Massen, die sich keinesfalls in Kirchen, Schulen und auf Märkten treffen sollten, wälzten sich allesamt die schmalen Eisentreppen auf die Externsteine rauf, jeder voller heimlicher Freude, ohne Eintritt reingekommen zu sein. Die Häuschen sind nämlich erst ab Ostern besetzt. Ein Tin-Whistle-Spieler musizierte am Fuß der Felstürme, und die Vögel taten dasselbe in den Baumkronen. Es war sehr friedlich und eher wenig Endzeitstimmung. Irgendwie kriege ich die Nachrichten und das eigene Lebensgefühl noch nicht übereinander. Vielleicht sollte ich froh sein.
Heute Morgen kam ich an einem Klavierladen vorbei, der Tasten-desinfizier-Tücher für einen Euro verkaufte. Ich dachte, komische Idee, vor allem, weil er gleich Stapel davon im Fenster liegen hatte.
Vier Häuser weiter war die Musikhochschule, und ich dachte, Ach deshalb! Jetzt ist alles klar.
Der erste Teil des Weges ging in der Sonne durch Wiesen, Felder und Weiden mit ein paar Bäumen und Pferden und kleinen Flüsschen. Sehr grün, sehr schön. Ich machte einen überflüssig langen Schlenker über die Altstadt von Horn, bis ich an den Externsteinen war.
Wer die nicht kennt: Hinfahren (vor Ostern) (vielleicht nicht gerade dieses Jahr). Gigantische Einzelfelstürme in ansonsten bewaldeten Hügeln. Schon seit vorchristlicher Zeit eine heilige Stätte mit mysteriösen Wannen und Kammern im Fels, sicherheitshalber nachchristianisiert durch großflächige Bildhauerei mit Jesus dran, wie er vom Kreuz abgenmmen wird. Damit der Platz ganz sicher immer noch heilig ist.
Heute lässt sich die aktuelle Heiligkeit an der Anzahl der Fotos und Selfies ablesen, die da gemacht werden. Ganz offenbar immer noch ein sehr heiliger Ort.
Weiter gings durch Birken und Fichten mit weiten Blicken, dann durch eine berauschend schöne Heidelandschaft, die sich auf ein paar Bergkuppen verteilte, und dann konnte ich eigentlich nicht mehr. Hatte aber noch 10 km vor mir, und es war schon drei Uphr. Und die 10 km wurden und wurden nicht weniger. Es war wie im Traum, wenn man rennt und rennt und nicht vom Fleck kommt. Ich wanderte Höchstgeschwindigkeit, weil ich gern im Hellen noch ankommen wollte, und es waren immer noch 9 km. Und immer noch 8.
Und im letzten Dorf vor Himmighausen, irgendwas mit Sand im Namen, fragte ich, ob da lang richtig sei, und alle sagten, im Prinzip ja, aber doch jetzt nicht mehr, da kommen Sie nicht durch, es wird dunkel, alles ist zugewachsen, Sie verlaufen sich. Lieber den Fahrradweg.
Dann hat mir eine Abiturientin namens Emma den Weg bis zum richtigen Fahrradweg an den Bahnschienen entlang gezeigt, und ich lief los. Und lief und lief. Und als ich sicher war, hier muss Himmighausen sein, auch wenn nichts dransteht, bin ich abgebogen wie auf der Karte zu sehen und um vier Ecken, und da war ein Haus – und es hatte den falschen Namen dranstehen. Nee, sagte die Hausherrin, die an den Zaun gekommen war, Himmighausen ist hier nicht, das ist Sandebeck. IMMER noch! Ich hatte das Gefühl, schon eine Stunde an der Bahn entlang gelaufen zu sein. Zum Glück waren es dann nur noch ungefähr zweieinhalb km bis zur richtigen Ecke. Ich kam im ziemlich Dunkeln an und sschffte es kaum noch, die Schuhe auszuziehen.
Das Zimmer ist nicht so teuer, aber da Pizza von 12 km weiter hinbringen zu lassen (einzige Möglichkeit, an was zu essen zu kommen), machte es zu einer fürstlichen Unterkunft.
Jetzt geh ich mal schlafen in wild geblümter Bettwäsche unter gelb-grün-golden bemalten Wänden.
16.3.2020
Hier ist der Link der spontanen Extinction-Rebellion-Aktion von Samstag in Bielefeld. Lilli voll in Aktion!
Heute Morgen kam im Flur der bunten Wohnung um halb acht das letzte noch verbliebene Tagesbetreuungskind an. Normalerweise wäre es eine ganze Schar, aber Kinderbetreuung ist ja gerade zu gefährlich, so dass die Eltern sich jetzt ganz schnell privat um Kinderbetreuung kümmern müssen. Außer sie verkaufen Lebensmittel, dann darf das Kind wie bisher zur Tagesmtter, bloß ohne die anderen.
Meine Vermieterin sagte, Kinderbetreuung sei gerade wahnsinnig gefragt bei ebay-Kleinanzeigen. Tipp für alle KünstlerInnen, die jetzt zu Hause sitzen, um keinen anzustecken. Regale einräumen in Supermärkten könntet ihr auch (zwischen Scharen panischer Klopapierhamsterer herumzustehen ist offenbar lange nicht so gefährlich wie Kurse zu geben) oder in einer netten Gruppe von SängerInnen Spargel stechen gehen. Weil ja keine polnischen und bulgarischen Erntehelfer einreisen dürfen.
Ich will ja nicht so negativ sein, aber richtig einleuchtend finde ich das bis jetzt nicht.
Jedenfalls war ich dann wach, als das systemrelevante Kind da war, und bekam ein reichliches Frühstück ins bunte Zimmer geliefert. Mit Blick auf einen selbst jetzt schon spektakuär schönen Garten, der an einen sich schlängelnden Bach grenzt. Und ich wusste, es sind heute nur ca. 14 km, noch dazu bei herrlichem Wetter, also die reinste Schlenderung! Gleich das Nachbardorf, das hauptsächlich aus einem alten Schlösschen mit ein paar Fachwerkhäusern drumum bestand, hatte einen Bücherschrank, und ich konnte es nicht lassen, mir eins auszusuchen. Und dann ging es von Bank zu Bank, immer wieder mit Picknick- (die Überreste der teuen Pizza) und Lesepausen in der Sonne. Nichts mehr mit dem Gehetze von gestern und dem vergeblichen Versuch, schneller als 3 km/h zu werden. Nee, heute bin ich mit Wonne wieder 2 km/h gelaufen, aber nicht notgedrungen als Folge von Nebel, Gussregen und unbegehbaren Wegen, sondern vom Gucken, Genießen und Entspannen. Ich unterhielt mich sehr nett mit einer Nordic-Walkerin. Wie man überhaupt sehr leicht mit Leuten ins Gespräch kommt. Da hätte ich die Ostwestfalen ganz anders eingeschätzt. Aber man wird anglächelt, freundlich gegrüßt und gern in ein Schwätzchen verwickelt. Mit 2 m Abstand, klar. Mit Distanz, aber nicht distanziert.
Exkurs: was Leute tun, wenn sie sonst nichts mehr tun dürfen (in Klammern die Anzahl derer, die ich dabei schon beobachtet habe):
- Nordic Walken (viele. Erstaunlich viele)
- Fensterputzen (eine)
- Bäumefällen (fünf)
- Zu den Externsteinen fahren (2000)
- In Fußgängerzonen herumstehen (recht wenige)
- Golfspielen (vier)
- Mit dem Hund rausgehen (ca. 100) (wie lange das wohl noch erlaubt ist?)
- Großeinkauf (50)
Was man noch tun könnte:
- Jonglieren lernen,
- Wohnung entrümpeln mit Marie Kondo oder http://www.magischekuechenspuele.de,
- Vorträge von Vera F. Birkenbihl, Eckart Tolle und Evelyn Glennie auf youtube gucken,
- selbst grandiose Trainingsprogramme für irgendwas entwefen, aufnehmen, hochladen und reich werden,
- ein Buch schreiben oder zumindest mit guten KollegInnen wahnwitzige Schreibchallenges aushecken,
- die resilienzfördernden Techniken üben, die Gregg Braden als Heart-brain-coherence unterrichtet,
- Kanons schreiben. Will das jemand lernen? Dann machen wir nen Fernkurs!
Ende des Exkurses.
Ich kam am späten Nachmittag in Bad Driburg an. Sehr hübscher Ort.
Da die Antwortrate bei Couchsurfing mittlerweile von 50% auf 0% gefallen ist, bin ich im Hotel einer Ruhrpott-Kneipe unterekommen. Ulkig und nicht allzu teuer.
Und telefonierte mit Luisa, die mir erzählte, dass Hotels und Pensionen jetzt keine Gäste mehr aufnehmen dürfen. Genauere Recherche ergab, sie dürfen nur noch Leute aufnehmen, die aus ernstzunehmenden Gründen unterwegs sind, nicht solche mit touristischem Hintergrund.
Und das, obwohl der Chef-Virologe der Charité sagt, draußen sei die Ansteckung sehr unwahrscheinlich (das wird die Externstein-Touristen freuen).
Es kann also sein, dass ich, obwohl ich hier mutterseelenallein durch die halb gefällten Wäder stapfe und nur um die Ortschften rum 2 m an Nordic-Walkerinnen und Hundebesitzer rankomme, ebenso sehr als potenzielle Gefährdung angesehen werde wie eine Reisebusgruppe, und nach Hause fahren muss (obwohl es mir lieber wäre zu laufen im Moment, als anderen in engen Zügen auf der Pelle zu hängen). Offenbar ist es sicherer, wenn ich nur im Emsland durch den Wald laufe.
Andererseits verkauft Lidl gerade leichte, rucksackfreundliche Luftmatratzen… und der Mundwinketest schlägt schon wieder an. Obwohl das Gehirn zetert:“Bist du bescheuert?!?!“
Na ja. Entweder gibts hier demnächst noch Reisemeisen oder eben nicht. Ihr werdet das schon merken. Übrigens: Sowohl der Osterkurs als auch das Korbach-Wochenende haben angekündigt, zumindest einen Teil des Honorars zu bezahlen – ihr müsst mich nicht verhungernd im Straßengraben wähnen.
Vielen Dank jetzt schon mal für euer Mitlesen und eure Anteilnahme!
Liebe Grüße
Julia