Hallo ihr Lieben! Und schon wieder hatte ich seit 30 Jahren unrecht! Meine Güte! In meiner Gesangsstunde hab ich die nächste Sache gelernt, die man auch total anders machen kann. Und ich habe mich noch NIE so singen hören wie vorhin. Immer nur tönchenweise natürlich, und dazwischen klang es jämmerlich, weil ich geheult habe über die Töne und darüber, wie frei sich das gerade anfühlte, und dazwischen musste ich lachen – und ich hoffe, ich finde das jetzt am Wochenende auch allein zu Hause wieder.
Zwei Doppelmoppel für euch zum Raten (wer vergessen hat, wie Doppelmoppel gehen, gucke bei Tag 2 nach):
1) Davon können Feuerwehrleute in dieser Jahreszeit ein Lied singen: Kleinere Missgeschicke mit Weihnachtsbäumen (2/2)
2) Und dann kommentieren sie ihre häufigen Einsätze, sofern sie sich des norddeutschen Zungenschlages befleißigen, trocken mit: „Förwiehnachtstied: Füer-alaam.“ (2/2)
Ich wünsche euch einen schönen Freitag! Singt ab und zu Weihnachtslieder, das tut gut! (Wenn man das mag.) Und damit ihr es auch allein (also ungefährlich) tun könnt und trotzdem musikalisch was Erhebendes dabei rauskommt, könnt ihr euch von Darko Pleli an der großen Orgel der Schottenkirche in Wien begleiten lassen. Ganz offenbar hat er coronabedingt nicht so viel zu tun und spielt jetzt jede Menge richtig schöne Orgel- und Klavierbegleitungen ein. Mit Text zum Mitsingen. Hier gibts Macht hoch die Tür, der Link oben führt zu seinem YouTube-Kanal mit riesig viel Auswahl.
Gleich fahre ich zum Gesangsunterricht nach Osnabrück. Es ist wahnsinnig spannend, SO viel Neues zu lernen. Und das, nachdem man sich jahrelang für einen Profi gehalten hat. Noch dazu einen, der gut Bescheid weiß. Jetzt weiß ich, dass ich in meinem Nebelhorn-Büchlein zwar viel Brauchbares und Gutes drinstehen habe, aber in zumindest einem Punkt eine furchtbar eingeengte „Klassik“-Sichtweise vertrete, durch die das, was ich da behaupte, schlicht nicht stimmt. Man muss es nur GANZ anders machen, dann geht es auch. Und eröffnet völlig neue Welten. Wie meine langjährige Wuppertaler Gesangslehrerin Do Hackenberg oft sagte:
Von allem ist immer auch das Gegenteil richtig.
Es scheint sich zu lohnen, nach diesem Gegenteil zu suchen.
In der gegenwärtigen Gesundheitsdebatte muss ich oft an die drei Leute denken, die im Dunkeln vor einem Elefanten stehen und versuchen, herauszubekommen, was das ist. Der eine steht am Bein und sagt: „Das Ding ist säulenförmig, das ist mal sicher.“ Der zweite betastet den Rüssel und sagt: „Bist du bescheuert? Es ist eine sich windende Schlange, die nicht beißt, nur lutscht.“. Der dritte, der die Elefantenflanke betastet, sagt: „Ihr müsst von Sinnen sein, das ist eine beheizte Gummiwand!“ Und jeder hält die Anderen für völlig unzurechnungsfähig. Statt mal entweder die Plätze zu tauschen oder das Licht anzumachen, um die Informationen, die die anderen haben, ebenfalls wahrnehmen zu können. (Oder nachzugucken, ob einer tatsächlich in einer anderen Ecke steht und eine Schlange in der Hand hat, auch das wäre ja möglich.)
Ja, ich hatte ja versprochen, dass ich kürzere Beiträge schicke. Also: Viel Spaß mit der ABC-Schlacht. Wer Sehnsucht nach Drillingen hat, findet sie im gestrigen Beitrag unter dem Link zum Kreativkurs, und die Lösungen davon kommen im morgigen Beitrag wieder unter dem Kreativkurslink.
Liebe Grüße Julia
P.S.: Neuer Lieblingssänger von mir: Tim Mead. Wie er hier Purcells „Strike the Viol“ rockt, das ist großartig. Finde ich. Auch die Band „Les Musiciens de Saint-Julien“ ist Weltklasse.
kennt ihr Doppelmoppel? Das Spiel hat sich Edith Jeske mal ausgedacht (zu ihren wunderbaren Kursen für Songtexten: http://www.musenlust.de). Und parallel kam Ähnliches auch aus anderen Ecken unter anderen Namen. Manchmal sind solche Spiele einfach dran und warten dringend aufs Erfundenwerden.
Die Regel: Es werden Wortpaare gesucht, die grammatikalisch einen Sinnzusammenhang ergeben (auch wenn der Inhalt an den Haaren herbeigezogen ist oder einer ausführlichen Erklärung bedarf, um Sinn zu ergeben). Und die beiden Hälften müssen sich exakt aufeinander reimen. So was wie grüne Bühne, Flöten löten, Linden finden, dicke Zicke oder ähnliches. Es müssen auch gar nicht immer zwei Silben sein. Mein Bein (1/1) oder eilige Heilige (3/3) gehen auch. Und für Fortgeschrittene auch Doppelreime wie dreifache Maiwache.
Wie ihr das erklärt, ist eure Sache. Denn erklärt werden muss das Ganze, und zwar so exakt definiert, dass die MitspielerInnen euer gefundenes Wortpaar erraten können. Dabei dürfen natürlich die Wörter, die geraten werden sollen, in der Definition nicht vorkommen.
Wenn ich jetzt die obigen Beispiele verschlüsseln will, könnte ich sagen: waldfarbenes Theaterpodest. Teile von Blasinstrumenten mittels geschmolzenem Zinn aneinander befestigen. Die Suche nach von Schubert gern besungenen Bäumen erfolgreich beenden. Voluminöse Schlechtgelaunte, eigene Unterextremität, zeitdruckgeplagte Vorbildkatholiken, mehrmaliges nächtliches Aufbleiben im Wonnemonat.
Alles klar? Ich werde jeden zweiten Tag ungefähr je einen Einsteiger- und einen teuflischen Profi-Doppelmoppel hier zum Raten in die Runde werfen. Lösungen dürfen mir gemailt werden, ich freu mich dann mit euch, wenns stimmt.
Mein Lied „Jochen, noch’n Rochen kochen“ (2/2/2/2) ist übrigens aus genau so einem Adventskalender entstanden und war die Lösung der Definition: „Anweisung an den nach Johannes dem Täufer benannten Küchenjungen, er möge einen weiteren stachligen Plattfisch in Wasser garen“ (Ja, das ist eher die Fortgeschrittenenversion) Die Silbenzahlen gebe ich mit an wie in den Klammern gezeigt.
für heute: 1) sprachloses Krustentier (2/2, Einsteiger) 2) behördliche Genehmigung zum Zusammenkochen des Weihnachtsmarkt-Standardgetränks (2/2, schon halbwegs anspruchsvoll)
Wer dann richtig kreativ loslegen will, findet hier den Einstieg in meine Kreativkurs-Seite und die erste Spielwiese. Bei den Filmen kam ich nach und nach mehr in Schwung, ausgerechnet die ersten beiden sind noch kein Feuerwerk an Überschwang – evtl. ersetze ich die durch Algarve-Filme, bei Gelegenheit. Zum Mitmachen braucht ihr ca. eine halbe Stunde für knapp 15 min. Film und zwei mal 5 min. wildes Schreiben. Nach Belieben wiederhol- und verlängerbar. Draußen sieht’s doch eh so aus:
Also kocht euch heiße Schokolade, schlagt eine Menge Sahne und legt los! Viel Spaß! Julia
Hallo ihr Lieben, nein ich bin nicht in der Versenkung verschwunden! Ich hab nur gerade so viele schöne Dinge um die Ohren, weil ich doch diese Berufsfindungscoachinggeschichte mache, und das ist sehr spannend, aber auch sehr arbeitsintensiv. Was bis jetzt dabei rausgekommen ist (ihr werdet euch erinnern, ich brauche gerade Ersatz für so gefährliche Sportarten wie Singen, Kabarettspielen, Chöre coachen, Seminare geben, in denen gesungen, gelacht oder sich bewegt wird) ist:
Ich möchte Leuten das Feuerzeug hinhalten, mit dem sie das Feuerwerk ihrer ureigensten Kreativität in Gang setzen können, um lustvoll und hingebungsvoll spielend pure Schönheit zu erschaffen. Oder ganz großartigen Blödsinn. Weil die Welt euren Blödsinn und eure Schönheit braucht, jetzt noch mehr als sonst.
Und wenn das gerade live nur eingeschränkt geht, machen wir es eben über Filmchen. Das hat viele Nachteile, aber vielleicht ebensoviele Vorteile, wie ja der Ostersingkurs schon gezeigt hat. Und diese Filme will ich dann auch noch beim Wandern aufnehmen, in herrlicher Umgebung, weil ich möchte, dass die Glückseligkeit, die dann immer durch mich durch rieselt, in jedem einzelnen Kursbeitrag zu spüren ist.
So, nun ist An-der-Ems-sitzen-im-November noch nicht GANZ so erhebend wie Barfuß-über-blühende-Algarve-Wiesen-Tanzen-im-März, aber doch immerhin schon mal ZIEMLICH schön. Und wenn es regnet, tut es auch mal die Terrasse. Also habe ich jetzt schon eine ganze Reihe kleiner, lustiger Kreativ-Schreib-Filmchen aufgenommen, zwischen 3 und 15 Minuten, mit Gelegenheit zum Ausprobieren. Absurde Einschränkungen, die die Kreativität beflügeln, Spiel mit Klängen der Sprache, fiese Grammatikvorgaben – you name it. Garniert mit Drillingen, deren Auflösung immer im nächsten Kursteil kommt.
Ihr merkt schon, das macht viel Spaß. Mir jedenfalls. 13 Kurs“tage“ zu kreativen Sprachspielereien sind jetzt fertig, mit wahlweise einem oder zwei Themen. Es ist bestimmt auch lohnend, eine Einheit immer an, sagen wir, drei Tagen hintereinander zu machen und zu merken, wie viel leichter das wird und wie viel phantasievoller die Ergebnisse.
So, und obwohl schon fast der zweite Dezember anfängt, tu ich jetzt doch noch so, als hätte ich euch dies schon heute Morgen geschickt und eröffne hiermit den Kreativ-Adventskalender 2020. Jeden Tag kommt irgend eine Kleinigkeit zum Schmunzeln, Mitmachen und Spaß haben. Und jeden zweiten Tag ein Link zu einem der Kurstage.
Natürlich könnt ihr auch einfach auf die neue halbfertige Website gehen und da rumstöbern, die anderen Kurse, deren Entstehung ihr in diesem Blog nach und nach mitgekriegt habt, sind da auch schon drin. Herr Bose vom Digitalisierungscoaching vorletzte Woche (das war klasse, VIEL besser als der Titel vermuten lässt) hat ganz streng gesagt, ab ganz bald gäbe es dann aber bitte Festpreise auf meinen Kurs-Seiten, das mit der Spenderei müsse ein Ende haben – also flott! Stürmt die Seite und macht alle Kurse, die ihr machen wollt, so lange ihr noch selbst entscheiden könnt, was ihr mir dafür geben wollt, und gratis mitmachen könnt, wenn der Säckel gerade leer ist. Es gibt die Superluxusvariante mit persönlichen Rückmeldungen zu den Texten, die ist auch ein tolles Weihnachtsgeschenk, falls ihr sprachverrückte Familienmitglieder und FreundInnen habt 🙂
Am Wochenende durfte ich Utes zauberhaften Kater hüten. Betrachtungen über Nachtaktivität bei Vierfüßlern der Gattung Felidae, welche einschließt, dass man wiederholt um fremde Kopfkissen streicht, die Geschmacksrichtung der Haarspülung des Gastes gründlich und immer wieder testet, den besten Platz auf dem Schlafsack sucht, verwirft, einen anderen sucht, und schließlich gegen vier Uhr morgens mit einem gewaltigen Satz auf die Tastatur des Bechsteinflügels springt (eingestrichene Oktave, alle Tasten), sich auf dessen Deckel trügerisch zur Ruhe legt und um kurz nach fünf den Abstieg antritt, auf demselben Weg, aber jetzt mit Erwerb des Wanderscheins, tastaturauf, tastaturab, hocherfreut den lustigen Geräuschen lauschend, den diese Stufen machen, bis man gepackt und aus dem Zimmer befördert wird, sollen ein andermal Thema sein. Tagsüber ist er hinreißend.
Nebenher habe ich ein paar Skype-Gesangsstunden gegeben, was zwar sehr anstrengend ist und nicht so schön wie live, aber doch erstaunlich gut funktioniert. Manchmal war sogar das Zusammensingen simultan. Ansonsten mussten Sabine und Klaus immer miteinander Duett singen, die standen beide auf derselben Seite der Leitung und hatten keine Verzögerung. Ich war sehr begeistert, wie gut sie „O Tannenbaum, du trägst ein grünes Kleid“ so schnell zweistimmig hinbekommen haben.
Meine Sandkastenfreundin Maren hat das in der Grundschule mit ihrer Klasse gelernt und mir beide Stimmen vorgesungen. Damals irgenwann. Und ich fand das SO schön (und so gemein, dass wir NIE zweistimmig gesungen haben in der Schule), dass ich mir beide Stimmen gemerkt habe. So lange, bis ich sie viele Jahre später aufschreiben konnte. Und dann habe ich das mit einer Menge Grundschulklassen gesungen, auch wenn die Lehrerinnen immer meinten: „Das ist VIEL zu schwer! Das KÖNNEN die nicht!“ Klar konnten die das.
So, und wenn ihr jetzt denkt, das Apfelbaum-Duell, das ich im Filmchen mit euch mache, könntet IHR nicht – wartet ab. Das Gehirn ist eine Suchmaschine. Sobald es kapiert hat, dass man nach der Kategorie „Rhythmus“ suchen KANN, wird es euch vermutlich dauernd damit behelligen. Und das macht eine Menge Spaß.
Nachdem die Bachkantate an Silvester – das letzte, was dieses Jahr noch im Kalender gestanden hätte, und auch das einzige – jetzt sehr fraglich geworden ist (nicht wegen Corona, sondern weil ein Stück Kirchendecke runtergefallen ist. Sonntags. Zum Glück stand keiner drunter, aber jetzt muss renoviert werden), war ich um so motivierter, mich an der Aktion „Ohne Kunst und Kultur wird es still“ zu beteiligen. Was ich mit diesem Film hier getan habe. (Eineinhalb Minuten, für alle, die nie Zeit haben.) Kyri hat gefilmt, auf dem heimischen Gartenteich, der sich dafür sehr gut eignete.
Ab heute Abend 20:00 Uhr könnt ihr auf allen möglichen Kanälen unter #SangUndKlanglos und #alarmstuferot wohl viel dergleichen finden. Vermutlich auch auf der Website Alarmstuferot.org. Statt Fernsehkrimi….
An den Fliesenbruchmosaiken links hab ich vor 11 Jahren mitgebaut! Sie sind immer noch im Garten von Haus Buchenried zu sehen.
Hallo ihr Lieben,
ich komme gerade von fünf Tagen Kurs, der tatsächlich stattgefunden hat! Unfassbar. Ich habe die halbe Hinfahrt im Zug darauf gewartet, dass das Telefon wieder klingelt und alles abgeblasen wird. Das war nämlich letzten Freitag noch so, wo ich unterwegs zu ein paar Stunden Kleingruppen-Stimmbildung in großen Gemeindesälen bzw. Kirchen in Nordhessen war. Als ich in Hamm umstieg, kam der Anruf: Wir dürfen leider doch nicht. Es wären zwar alle aktuell geltenden Auflagen erfüllt, aber es ist der Kirche doch zu brenzlig. Im Gegensatz zu fast allen anderen Absagern wird von den drei beteiligten Gemeinden allerdings das vereinbarte Honorar bezahlt. Von daher saß ich dann zu Hause ohne Finanzpanik und machte Filmchen zu Kreativitätstechniken. Für den Fall, dass der Kreativkurs ausfiele, damit meine Leute dann zumindest allein zu Hause ein paar lustige Sachen schreiben könnten. Aber die Moral sank doch dabei. Und immer wenn ich Singen geübt habe für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Kurs und auch das dazugehörige MiniKonzert mit Annette stattfinden würden, sank sie noch mehr. Ich klang so grauenhaft, dass ich schon sicher war, Stimmbandknötchen zu haben. Und wahrscheinlich nie wieder für irgend ein Publikum zumutbar zu sein. Als ich mit Annette telefoniert habe, um sie vorzuwarnen, blieb sie bemerkenswert gelassen und meinte: „Lass uns in Ruhe abwarten, ich übe weiter. Mein Gefühl sagt, dass der Kurs stattfindet und das Konzert auch, und dass alles richtig schön wird.“ „Aber klar!“, habe ich ironisch gedacht, „Träum weiter.“ Natürlich habe ich die Kursvorbereitung trotzdem bis zum Ende erledigt, weil man ja nie wissen kann. Und weil ich dachte, sie könnte mir für die Video-Fassung des Seminars nützlich sein.
Ich habe extra am Montag den spätestmöglichen Zug genommen, um, wenn der Absageanruf kommt, nicht so weit zurückfahren zu müssen. Um neun bei Büroöffnung in Buchenried kam aber noch gar kein Anruf. Erst gegen elf kurz vor Hannover klingelte das Telefon. Der Hausmeister von Buchenried. „Ich stelle gerade die Tische für Ihr Seminar. Wieviele brauchen Sie? Und E-Piano, Tafeln und Notenständer, ist das richtig?“ „Er stellt die Tische!!!!“, dachte ich. „Sie machen es echt!“
Kaum in B. angekommen, ertappte ich mich dabei, wie ich munter summend durch die Gänge eilte.
Natürlich war alles anders als sonst. Einbahnstraßen, kursweises Essen an Einzeltischen in mehreren Schichten – und wir waren auch noch die frühe Schicht, was meine schöne Planung, die Lüftungszwangspausen hinten an den Vormittagsunterricht dranzuhängen, sofort sabotierte. Und Einmalhandschuhe am Buffet und Maske auf den Gängen. Und die amüsante Info, dass wir im Speiseraum die Tische hätten zusammenrücken dürfen, um gemeinsam zu essen, ohne Masken, im Seminarraum aber keinesfalls. Das eine ist Gastronomie-Regelung, das andere Erwachsenenbildungs-Regelung. Der Aufwand und die Kosten für die Anschaffung der ubiquitären Desinfektionsmittelspender und Einmalhandschuh-Boxen, die Raumplanung und die Reduzierung der Kursgrößen für alle Seminare dürften nicht unerheblich gewesen sein. Pech, dass man das jetzt wahrscheinlich nicht weiter benutzen darf.
Noch nie habe ich in Buchenried am vierten Abend Leute im Haus gesehen und gedacht: „Was sind denn das für welche? Wo kommen die her? Waren die vorher schon da?“ Normalerweise unterhält man sich beim Essen und auf den Fluren quer über alle Kursgrenzen, inspiriert sich gegenseitig, macht Lust, auch einmal ganz andere Dinge auszuprobieren und freut sich auf den Abend, wo alle geeigneten Kurse sich gegenseitig etwas vorsingen, Bilder zeigen, Tanzaufführungen machen oder Lesungen mit Musik. Aber: Wir hatten das Glück, genau in der Woche da zu sein, in der im Unterricht selbst, sowie alle am Tisch saßen, die Masken weggelegt werden durften. Gemeinsames Lachen steckt ja so viel mehr an, wenn man die Lachfalten der anderen sich kräuseln sieht. Und gelacht haben wir. Meine Güte, tat DAS gut! Von Tag zu Tag wurden wir munterer. Am Anfang war ich noch ein bisschen angespannt, weil ich ja wie üblich so schrecklich gern WOLLTE, dass alle ganz toll viel Kreativität entfalten, und ein bisschen Sorge hatte, dass meine Aufgaben das vielleicht nicht schaffen oder nicht für alle geeignet und beflügelnd sind. Und weil ich doch recht streng geplant hatte mit eisernem Übungsprogramm, das vormittags so ein paar sich wiederholende, aufeinander aufbauende Bootcamp-Übungen beinhaltete. Damit man sehen kann, dass es leichter und vergnüglicher wird, und weil man ja doch manche Sachen leider durch Üben und Training lernt und nicht durch eine blitzartige Erkenntnis, die einen dann bis ans Ende des Lebens weiterträgt. Von daher wurde jeden Morgen fünf Minuten nur über Sinneswahrnehmungen geschrieben (jegliches Reflektieren und kluge Nachdenken sollte ausgespart werden, was einigen ziemlich schwer fiel). Regenschirm. Wie fühlt der sich an, wenns draufregnet? Wie riecht es, wenn man ihn spazierenträgt? was ist zu hören? U-Bahn-Schacht. Schwimmbad. Das war sehr spannend. Von kreischenden Hallenbadkindern über morgendliches Schlachtensee-Schwimmen bis zu Badehosenverlust am Beckenrand war alles vertreten, und allmählich strotzten die Texte vor starken Bildern und individuellen Ein- und Ausdrücken. Am letzten Tag: Haare. Ojojoi. Borstige Seemannswolle, seidige Locken und der beherzte Griff in den verstopften Badewannenabfluss und was da so zutagekam – das Spektrum war großartig.
Außerdem haben wir eine Kreativitätsübung gemacht, die als „Remote Associates Test“ in den 60er Jahren von Martha und Sarnoff Mednick entwickelt wurde, und die Annette Müller (die ANDERE Annette) der Griffigkeit halber „Drillinge“ getauft hat. Ich erklärs euch, falls auch ihr dieser Sucht verfallen wollt. Man sucht sich ein „Teekesselchen“, am besten mit drei verschiedenen Bedeutungen eines Wortes, und baut dieses Wort dann in drei zusammengesetzte Wörter ein, die jeweils mit einer anderen dieser drei Bedeutungen spielen. Das Teekesselchen darf dabei vorn oder hinten stehen. Muss aber direkt angebaut werden, ohne Bindungs-s oder –n. Sagen wir, das Wort „Stuhl“ bringt uns auf die Ideen „Schaukelstuhl, Richterstuhl und Stuhlgang“. Dann entfernen wir aus allen dreien den gemeinsamen Teil und behalten übrig: SCHAUKEL | RICHTER | GANG. Ich schreibe alles in Versalien, damit Groß- und Kleinschreibung weder zu viel verrät noch in die Irre führt. Wer das jetzt raten will, probiert im Kopf alles durch, was Erfolg verspricht. Weiß aber nicht, wo eine erste und wo eine zweite Hälfte gebraucht wird. Hollywoodschaukel, Hollywoodrichter, Hollywoodgang? Kinderschaukel, Richterkinder, Kinder-Gang? Möglich…. Im Idealfall macht es, wenn man das richtig passende und nicht nur an den Haaren herbeigezogen passende Wort findet, ein befriedigendes „Klick!“ im Hirn. Hier sind ein paar:
BLUMEN | KONFERENZ | ZITRONEN TAKT | JAHRE | WILD WISCHER | BROT | KLEISTER LOCH | KLINGEL | AUGE TABELLE | ÜBER | HAND MAL | SCHRAUBEN | LIEBE (Auflösungen im nächsten Blog)
Mednicks haben das als Kreativitäts-TEST entwickelt (wobei er nur die verbale Kreativität misst), es ist aber klar, dass das auch als Kreativitäts-TRAINING, also als Training darin, diese Verbindungen schnell und leicht zu sehen, funktioniert. Na, und nachdem das erste Gejammer, dass das aber schon SEHR schwer sei, verklungen war, wurde es enorm still im Raum, und man sah die Gehirne leise qualmen. Eine Teilnehmerin hat direkt die Familien-Chatgruppe damit infiziert. Ha! Weiter so. Warum soll es anderen besser gehen als Luisa und mir. Unsere SMS-Verläufe sind inzwischen bedenklich. Im Minutentakt gehen da die Aufgaben und Lösungen hin und her, mittlerweile auch mit angenagten Wörtern. Eins von Luisa: GRAD | KÜCHEN | GEBNIS. Mann, hab ich lange gebraucht, bis ich drauf kam, dass sie MESSER meinte. Gemein!
Mit Annette Cieslinski, meiner Pianistin, habe ich dann tatsächlich auch ein winziges Konzertlein gegeben. Ursprünglich fürs ganze Haus plus Gäste gedacht, dank Corona dann auf erst eine halbe Stunde, dann auf die TeilnehmerInnen meines Kurses beschränkt. Im zweistöckigen Foyer mit jeder Menge Platz. Und nach und nach sammelten sich im unteren Stockwerk unter der Galerie (aerosolgeschützt durch 10 m Abstand und eine solide Betondecke) immer mehr aus den anderen Kursen, das hörte man am Applaus. Angeblich haben sie sogar Text verstanden. Was TAT das gut, mal wieder richtig Musik zu machen. Miteinander. Für Leute. Für echte Menschen! Und anscheinend nicht nur mir, sondern sogar den ZuhörerInnen auch! Wenn man ihnen Glauben schenken darf. Ein riesiges Geschenk, das Ganze.
Es war ein großer Jammer, sich von fünf Tagen Gelächter und Feuerwerk zu verabschieden. Und unfassbar, wie anders die Stimmung wird durch so was. Von „Alles Sch…e!“ zu „Hurra, mich kann nix umschmeißen!“ in weniger als einer Woche. Gemeinschaft, Lachen und kreativer Selbstausdruck scheinen irgendwie recht förderlich zu sein. Sollte man vielleicht öfters anwenden.
Auf dem Rückweg vom Kurs habe ich mit Annette C. noch ein paar Leider aufgenommen. Nicht perfekt, aber mit viel Spaß und trotz der kleinen Unebenheiten schön. Hier ist zum Beispiel der Blinde Fleck für euch. Wenn ich das selbst begleite, muss ich immer eine simplere Klavierbegleitung spielen, Annette kann ich mehr zu tun geben.
Nebenher bin ich dabei, den Kreativkurs, OBWOHL er stattgefunden hat, auch in digitaler Form häppchenweise zugänglich zu machen. Die Website ausschließlich mit Kursspielwiesen ist in Arbeit. Drillinge kommen auch drin vor. Und lauter lustige Sachen. Ich halte euch auf dem Laufenden!
Nebenher mache ich ja ein geniales Coaching zur beruflichen Neuorientierung. Jeden Dienstag Abend eine Videokonferenz mit kleiner Gruppe, die in den verschiedensten Ecken Norddeutschlands sitzt und unter kompetenter Anleitung herausfindet, welche verschütteten Leidenschaften und Lebensträume jetzt umgesetzt werden wollen. Ich erzähl euch demnächst von den enorm erhellenden Übungen und Erkenntnissen!
Für heute reichts. Ich wünsche euch schöne Tage und schicke demnächst für alle, die zu viel allein zu Haus sitzen und sich nach Anregungen sehnen, kreative Schreibspiele vorbei. Wer mir dafür wieder eine freiwillige Kursgebühr schicken will, ist sehr willkommen. Wobei diejenigen, die noch was verdienen, vermutlich keine Zeit zum Mitmachen haben, und diejenigen, die Zeit haben, allmählich die Pfennige zusammenkratzen müssen (und dann natürlich wie gehabt gratis mitmachen dürfen und sollen).
Viele liebe Grüße Julia
Die Konzertfotos sind von Andreas Laus aus dem Fotokurs von Sabine Klem.
2.10. Diesmal hat es lange gedauert, bis die Schönheit der Stadt wirklich bei mir angekommen ist, bis dieses glückliche Erfülltsein und Staunen wieder voll da war. Zweieinhalb Wochen war ich hier und doch nicht ganz hier, oft mit den Gedanken woanders, innerlich kribbelig und unruhig. Erst in den letzten Tagen hat mich die Stadt wieder so am Wickel und rührt mich an, dass ich mitten auf einer kleinen Brücke in der Abendbeleuchtung mit sich im Wasser spiegelnden Laternen plötzlich ohne Vorwarnung feuchte Augen kriege vor Glück oder etwas anderem, Unbenennbaren. Jetzt würde ich gern noch länger bleiben. Aber ich wollte mich ja auch mit Mati treffen, der Elfe mit den Bärenkräften aus dem englischen Baukurs. Nur ist die sehr schwer zu erreichen UND auf dem Sprung zu einem neuen Job in der Toskana. Noch weiß ich nicht, ob es morgen klappt.
4.10. Ich war Teil eines Wunders. Und das Wunder bestand darin, dass nichts passiert ist. Für gestern war nämlich Hochwasser angesagt, also so richtig hohes. Es war Vollmond, was anscheinend die Hochwasserneigung verstärkt, und Schirokko, was dieselbe Wirkung hat. Bei Ebbe ist das Wurst. Aber zweimal am Tag ist ja auch noch Flut. Und da kann man wohl in etwa abschätzen, wie viele cm überdurchschnittlich das wird. Für gestern waren 130 cm angesagt, was heißt, dass die Hälfte der Stadt überflutet wird. Nun gibt es ja MOSE, das Milliardengrab in Form elektrischer Flutschleusen. Zwischen Cavallino und Lido, zwischen Lido und Pellestrina, zwischen Pellestrina und Chioggia. Seit den Sechzigerjahren in Planung, seit den Neunzigern sollte das Ganze fertig sein, war es aber nicht. Ganz offenbar gab es immer noch Leute, deren persönlicher Geldbeutel noch nicht genügend profitiert hatte, also wurde weitergebaut. Dank der Gelder von EU und italienischem Staat ließ sich das Projekt noch schön verlängern. Natürlich hätte man schon vor Jahrzehnten niederländische Spezialisten für wasserbremsende Systeme um Hilfe bitten können, aber „Will selbst, kann schon alleine!“ rief man einstimmig und schippte und schraubte weiter. Schon die letzten Male, als ich hier war, wurde das ganze Projekt nur noch als Lachnummer mit einer Mischung aus Verzweiflung und Galgenhumor betrachtet und allgemein angenommen, dass es einfach nie mehr fertigwerden und als ewige Baustelle in die Geschichte eingehen würde. „Sowas gibts echt nur bei uns!“, hat Laura noch letzte Woche gesagt. Und dann war sie bass erstaunt, als ich ihr ein bisschen von Elbphilharmonie, Berliner Flughafen, Stuttgart 21 und dem Kölner Stadtarchiv erzählt habe. Jedenfalls hatte wohl noch letzte Woche MOSE nicht funktioniert, war einfach nicht hochgegangen, obwohl man die entsprechenden Knöpfe gedrückt hatte. Letztes Jahr im November auch nicht, obwohl es da sehr nötig gewesen wäre. Also sagten auch jetzt am Wochenende alle mit höhnischem Lächeln: „Na ja, womöglich funktioniert MOSE ja diesmal!“ – „Aber sicher doch!“, und schraubten kniehohe Bretter und Metallplatten vor die Ladentüren, über die man dann drüberturnen musste, wenn man Sehnsucht nach Glasnippes oder chinesischen Handtaschenklonen verspürte. (Die Ladenlandschaft hier hat sich, seit ich das letzte Mal in der Stadt war, noch entschieden weiter weg von brauchbaren Dingen, etwa schönen Lampen oder Möbelbezugsstoffen hin zu weiteren Eisdielen, Schokoladenläden und chinesischen Taschenläden mit zigfacher absolut identischer Auswahl verlagert.)
Nun wollte ich ja Samstag Morgen fahren und mich mit Matilde treffen und war schon ganz bekümmert, dass ich dieses Hochwasser um zwei Stunden verpassen würde. Und schließlich wollte ich ja auch gern nachsehen, ob Enricos Hanf-Kalk-Lehmputz die Flut überleben würde. Dann schrieb Mati, ob wir uns nicht statt Samstag auch Sonntag treffen könnten. Hurra! Ich wollte sowieso am liebsten noch deutlich verlängern. Und Laura hatte nichts dagegen, mir das Zimmer noch eine Nacht länger zu vermieten. Also zog ich mir am Samstagmorgen Luisas Segelschuhe und einen kurzen Rock an sowie warme Weste und Regenjacke. Der Schirm schlug sofort um, den packte ich gleich wieder zusammen und stemmte mich gegen den Wind. Um kurz nach zehn wollte ich erst noch zur Kirche Santa Maria dell’ Orto, in der Tintoretto und seine Tochter Marietta begraben sind. Sie soll eine der schönsten der Stadt sein, und Freitag war sie geschlossen gewesen, als ich ankam. Aber, wen wundert’s? Sie war auch jetzt geschlossen, obwohl sie um zehn hätte öffnen sollen. Für zwölf hatte ich mir einen Besuchstermin für die Dachterrasse vom Fondaco dei Tedeschi an der Rialtobrücke gebucht, davor reichte die Zeit noch, um über das steigende Wasser auf dem Marcusplatz zu staunen. Mit um die Knie schlabberndem, tropfendem Rock und sehr kalten nassen Füßen quatschte ich durch Regen und Pfützen. Der Marcusplatz war voller Touristen in Gummistiefeln, zum Teil bis zur Hüfte, oder grellbunten PVC-Überziehern für die Schuhe. Außerdem reichlich Kamerateams und Fotografen, die ihre Stative schon mal in Position brachten oder versuchten, in abenteuerlichen Kauerpositionen an den Gullis das herausblubbernde Wasser zu filmen.
Es wurde elf und viertel nach elf, und das herausblubbernde Wasser blieb nur fingertief. Obwohl der Sirenenalarm am Morgen mit seinen drei ansteigenden Tönen in grauslich zu kleinen kleinen Terzen ganz klar auf Hochwasser Stufe 3, eben 130 cm hoch und 50% Überschwemmungszonen, hingewiesen hatte. Es wurde halb zwölf. Kein Hochwasser. Die Fotografen langweilten sich sichtlich. Die TouristInnen standen etwas ratlos auf den Stegen. Oder auch daneben, es war ja egal. Die Kapelle vom Café Florian spielte „Somewhere over the rainbow“ hinter einer regen- und windbremsenden Plastikplane. Ich machte mich auf zur Rialtobrücke, zum Glück war es jetzt trocken, und ließ mir am Eingang zum Fondaco mal wieder Fieber messen. Da sah ich das Schild: Dachterrasse nicht begehbar wegen des Unwetters. Was denn bitte für ein Unwetter? Es war inzwischen fast sonnig!
Jedenfalls nützte es nichts, meine letzte Chance auf diesen Ausblick von oben, entschwand im Nichts. Angeblich war es wahnsinnig rutschig und dadurch lebensgefährlich auf diesem Dach. Oder sie wollten Personal einsparen. Resigniert ging ich wieder zurück zum Marcusplatz. Keine Spur von Hochwasser. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass MOSE hochgegangen war. Oder dass die Vorhersage sich vollkommen vertan hatte. Ich wusste nicht, wie ich es rauskriegen sollte, und ging mich erstmal trockenlegen. In langer Hose und mit Stiefeln ging ich später wieder los. Eine Ladenbesitzerin fragte ich, ob etwa MOSE funktioniert hätte, weil es so unüberschwemmt sei. „Ja,“, sagte sie, „zum ersten Mal hat MOSE funktioniert.“ Wahnsinn. Sie stimmte mit mir überein, dass das doch super für die Stadt und ihre BewohnerInnen und LadenbesitzerInnen sei, sagte aber nüchtern: „Mal sehen, bis wann es funktioniert.“ Ach richtig. Der Treppenlift an der Calatrava-Brücke (auch ein Millionengrab) hatte genau zwei Wochen seinen Dienst versehen, dann noch zehn Jahre in Plastik verhüllt vor sich hingerostet und ist jetzt abgebaut worden. Also gut. Auch der Buchhändler der Libreria La Toletta (die heißt echt so), bei dem ich mir zum weiteren Spracherwerb ein Harry-Potter-Hörbuch erworben habe, sagte mit einer Mischung aus Feierlichkeit und Wehmut: „Zum ersten Mal seit 1200 Jahren war Venedig vom Meer getrennt. Für sechs Stunden.“ Er erklärte mir, dass noch gar nicht geklärt sei, wer in Zukunft entscheiden dürfe oder müsse, wann die Schleusenwände hochgefahren werden. Im Moment sei es noch die Planungsfirma, weil ja alles noch im Experimentierstadium („nello stadio sperimentale“) sei. Und Sonntag gebe es Hochwasser, weil die Schleusenwände da zur Abwechslung nicht hochgefahren würden. Oh verflixt. Aber noch einen Tag kann ich echt nicht warten.
Jedenfalls sah Enricos Putz erstklassig aus ohne den Stresstest, unter Salzwasser getunkt zu werden.
Und die Stadt war in ein leuchtend rotes Abendlicht getaucht, dass man nur noch hätte jubeln wollen. Hab ich auch getan, am Telefon, mit Barbara an der Strippe, und nur immer gesagt: „Und ich kann das nicht fotografieren, weil ich die Kamera am Ohr habe!“ Ich muss definitiv wieder auf Headset umsteigen.
Ein Mordsregenbogen überspannte den ganzen Himmel über der Basilica Santa Maria Gloriosa dei Frari, und rosa und aprikosenfarbene Wolken drängelten sich neben tiefblauen Himmelsflecken. Was für ein Abschiedsspektakel. Ich muss unbedingt wiederkommen. Schon zweimal muss in drei Sätzen 🙂
Trotzdem bin ich dann noch Kochen und Packen gegangen, das letzte Mal Chicchetti (Mini-Gnocchi) mit Gemüse an Lauras Gasherd, während Kater Karlo mir um die Knie strich und versuchte, mich zu einer Extra-Gabe Croccantini zu bewegen. Kein Wunder, dass er so voluminös ist. Der englische Alex stand derweil in der Küchentür, und wir haben uns gegenseitig vom Leben erzählt. Sein komplettes Studium an der Ca’Foscari-Uni läuft online, er sieht praktisch keinen Menschen in echt und sitzt immer nur in seiner Mönchszelle. Denn die Seminare mit mehreren hundert StudentInnen dürfen im Moment nur ungefähr fünfzig reinlassen, dafür muss man sich quasi bewerben, und wer nicht reinkommt, kann über den Computer mitmachen. Aber es stört ihn nicht, er liest sowieso lieber Bücher über Philosophie.
Laura zieht jetzt weg aus Venedig. Auch mit zwei UntermierterInnen in der Wohnung und festem Job kann sie sich die Preise in der Stadt nicht mehr leisten. Ich vermute mal, demnächst ist die Wohnung bei AirBnB zu finden, wie so viele andere.
Mit Mati habe ich mich in Verona getroffen, statt zu ihr in die Berge in den ersten Schnee zu fahren. Es war ganz wunderbar. In England war mein Gehirn ja so zwischen Lehmbau-Lernen und Englischreden zermahlen worden, dass ich kaum einen italienischen Satz rausgekriegt habe, aber jetzt, mit herrlichem Eis auf der Piazza Navona neben der Arena unterm Baum, da ging es ganz leicht. Einige von euch finden mich ja schon outdoorsüchtig und wenig zimmerkompatibel, aber gegen Mati bin ich ein Stubenhocker. Sie hätte nämlich durchaus Lust zu studieren, irgendwas mit Botanik und Heilpflanzen und ökologischem Gartenbau, aber dafür drinnen in Hörsälen sitzen zu müssen, womöglich am Computer tippend, geht für sie überhaupt gar nicht. Da fährt sie lieber noch mal WWOOFen und lernt in der Praxis. Sie wollte ja auch schon ganz gern etwas von dem in England gelernten umsetzen, aber sie hat, seit sie von dort zurück ist, bei ihren Eltern gewohnt. Und der Vater hat sie streng ins Auge gefasst und gesagt: „Das Haus wird NICHT angerührt!!!!“
Damit schließe ich den diesjährigen Venedigbericht vorerst. Glücklicherweise sind für Oktober ein paar schöne Arbeitsmöglichkeiten aus dem Nichts erschienen, während ich dort war. Ich habe meine erste Online-Gesangsstunde gegeben, und es hat erstaunlich gut funktioniert, es kam noch eine Anfrage für Textcoaching, im Wechsel live und per Telefon oder Mail, ein weiterer Chor hat sich gemeldet, der trotz der aktuell erschwerten Umstände gern seinen Mitgliedern Stimmbildung ermöglichen möchte, ein für März abgesagter Kabarettauftritt im Schwarzwald wird in zwei Wochen nachgeholt, und Annette und ich machen tatsächlich ein kleines, coronakompatibles Konzert im Haus Buchenried, auf der Galerie des Foyers mit Mordsakustik. Während des Kreativkurses, den Edith und ich da sowieso schon geben. Außerdem fängt heute Abend ein achtwöchiges Coaching an, in dem sich für mich hoffentlich Perspektiven auftun, was ich denn beruflich jetzt so machen kann. Und will. Das Ganze läuft auch wieder online, nur einer der Termine ist in Hamburg. Was insgesamt mal wieder beweist, wie zwecklos es war, wegen platzender Berufschancen deprimiert und verzweifelt zu sein. Wie Georgette Heyer in „The Grand Sophy“ so schön schreibt: Lord Charlbury: „Sie raten mir also, nicht zu verzweifeln?“ Sophy: „Ich glaube nicht, dass ich jemals irgendwem raten würde zu verzweifeln!“
Viele liebe Grüße an euch alle! Bis demnächst auf dieser Welle – mit was auch immer. Julia
P.S.: Für alle die, die nicht wissen, was WWOOF ist: World wide opportunities on organic farms (z.B. https://wwoof.it/ für Italien.) Da kann man als Mitglied sehen, welche Bauernhöfe gerade Hilfe brauchen, was die so machen, und wenn etwa man lernen will, Käse zu machen oder Kartoffeln zu häufeln oder Gemüse zu fermentieren, sucht man sich den entsprechenden Hof, klärt die Termine und arbeitet da 4-6 Stunden am Tag gegen Kost und Logis und Lernen. So kann man sich dann Stück für Stück durch Australien arbeiten oder durch Schweden oder was immer man so vorhat. Und die Landessprache lernen mit so abwegigen Vokalbeln wie Rübenverziehen und Weintraubenpresse.
Wir haben eine neue Lehrerin, Mariangela (zweifellos hat sie fromme Eltern bei diesem schönen Namen), und sie fordert uns nicht halb so sehr wie Alberto. Dadurch, dass wir nur noch zu dritt sind (Pierette, Luca und ich), haben wir viel Gelegenheit, zu reden. Ich fürchte, ich werde zur großblättrigen Pflanze und rede am meisten, so wie damals dieser überaus nervende deutsche Arzt. Mir sitzen die Worte einfach am lockersten, und die Hälfte der Zeit bremse ich mich dann, um nicht schon wieder als erste reinzuquaken, aber die andere Hälfte passiert es eben doch. Ich hoffe, wir dürfen demnächst auch noch mal was schreiben oder wilde Grammatik lernen.
Der Campo San Pantalon ist wie eh und je zwischen dem Istituto und der Scuola San Rocco, und wie vor drei Jahren steht immer noch regelmäßig eine einzelne Möwe drauf rum und spielt Fotomodell. Ob das dieselbe ist wie damals?
Es ist aber diesmal noch eine zweite, jüngere da, die auch nicht schüchterner ist.
Nachdem ich ja nun so viel Interessantes über Tintoretto gehört hatte, nicht nur, dass er seine Tochter ebenso ausgebildet hat wie seinen Sohn, auch, dass er mit 20 schon fertiger Meister war (Malermeister – das wird man heute meist später, selbst wenn man die Wände nur einfarbig bemalt) und stolz auf seine Herkunft aus einfacher Färber-Familie (Tintoretto ist bloß der Spitzname dieses Jacobo Robusti und heißt zu deutsch „Färberlein“) und so – da wollte ich nun endlich die bisher immer ausgelassene Scuola Grande di San Rocco besichtigen, die er quasi im Alleingang ausgemalt hat.
60 Gemälde von ihm sind da drin, davon sind etliche Deckengemälde, die ich auch für viel Geld bitte nicht hätte malen wollen. Und alle in XXL-Format. Die „kleinen“ Bilder sind so dreieinhalb mal fünf Meter wie diese Weihnachtsszene mit Maria und Josef auf dem Heuboden
und das größte grob geschätzt fünf mal zehn. Eine Kreuzigungsszene in Originalgröße und das reinste Wimmelbild. Das Kreuz selbst steht zwar in der Mitte, ist aber in zurückhaltenden Farben gestaltet, auch die weinende Familie drumrum wird sozusagen als bekannt vorausgesetzt. Mit Spot-Beleuchtung ins Scheinwerferlicht gerückt werden ganz andere Szenen. Jeweils ein faszinierter Zuschauer rechts und einer links, die sich auf irgend einen Felsen stützen und beobachten. Ein Hund, der mitten zwischen den ganzen Leuten liegt. (Hatte Domenico nicht mal gesagt, dass Hunde auf religösen Bildern immer für Fidelitas, also Treue bzw. Glauben stehen?) Außerdem sieht man die Leute, die damit beschäftigt sind, den Nachbar-Delinquenten zu kreuzigen, sich so sehr mühen, dass man versucht ist, ihnen zu Hilfe zu eilen. Und versteckt in eine Lücke gezwängt kauern zwei, von denen man sich erst fragt, was sie da bitte treiben, bis man dann sieht, dass sie Würfel in der Hand haben. Also jedenfalls erzählt das Gemälde ganze Romane, und man wünscht sich eine Bilderbuch-Oma, die es mit einem anguckt und immer sagt: „Oh, und sieh mal hier, was der macht! Was glaubst du, warum? Was der wohl vorhat? Ach, und das Pferd hier, das hebt das Bein so komisch! Ob das mal…?“ Zum Glück steht eine Reihe Regiestühle am Rand (immer einer richtigrum und zwei falschrum wegen der Abstände), und man kann sich hinsetzten und ewig lang gucken. Da ich in der Mittagszeit da war, war es auch ziemlich leer.
Der außerordentlich schöne Steinintarsien-Fußboden:
Ich hab ja sonst noch nicht viel von Tintoretto gesehen, aber diesen entschiedenen Pinselstrich erkennt man echt ziemlich schnell wieder. Das sind so richtige Typen, die er malt, Männer wie Frauen.
Hier zum Beispiel sind drei Verkündigungsszenen verschiedener Urheber, die alle da in der Scuola hängen. Zwei mit anmutig schwebenden Engeln und demütig ihr Schicksal hinnehmender Maria (unbekannt und Tiepolo). Bei Tintoretto ein Engel im Sturzflug und eine Maria, die aussieht als ob sie richtig zulangen könnte, falls die heiligen drei Könige zu viel Weihrauch um die Krippe wedeln, mit Händen wie ein Bauarbeiter und einem Gesichtsausdruck, der ganz klar „WATT willst du?!?! Bleib mir bloß wech mit SO watt!“ sagt.
Sehr lustig fand ich auch diese Himmelfahrt Mariens, wo auch wieder ihre Gewichtigkeit zu sehen ist. Gleich mehrere Engel strengen sich an, sie nach oben zu bugsieren und zu schleppen, woraufhin sie fast das Gleichgewicht zu verlieren scheint. Das hätte ja was geben können, wenn das schiefgegangen wäre!
So hat er wohl ungefähr ausgesehen, der Tintoretto. Jedenfalls ist das eine Statue von ihm, die ein Zeitgenosse namens F. Pianta angefertigt hat und die da im Saal die Wand ziert.
Abends haben Laura und ich zusammen gekocht. Das heißt, eigentlich hat sie gekocht, und ich durfte pro Forma Mangold („la bieta“) kleinschneiden und Tisch decken und ansonsten dekorativ daneben sitzen und mich unterhalten. Erstens war es sehr lecker und zweitens eine hochspannende Geschichtslektion von der Gründung Venedigs bis zu den Partisanen. Das mit den Angreifern zu Pferd und zu Schiff, die die Lagune nicht durchqueren können, war TATSÄCHLICH der Grund dafür, dass Venedig an diesem so wenig baufreundlichen Platz gelandet ist. Die Bewohner einer eigentlich auf dem Festland gelegenen Siedlung, die es da schon lange gab, zogen sich, nachdem sie zum x-ten Mal von irgendwelchen Vandalen oder Kimbern überfallen worden waren, auf die Insel Torcello zurück und waren da sicher, wenn sie auch Rheuma und Malaria kriegten. Danach wurde der Lido besiedelt (der erste Doge Venedigs hat noch im Süden des Lido gewohnt, da wo heute die Fähre nach Pellestrina anlegt) und erst deutlich später das heutige Stadtgebiet Venedigs.
Dies ist übrigens der Blick aus meinem Zimmer:
Nachdem gestern so wie Sonntag eher Museums-Wetter gewesen war, war es heute noch mal fast warm, mit klarem Licht und all diesen schönen Dingen. Mein „Schulweg“ entlang des Rio Tolentini:
Weil die Wetter-App das gute Wetter ja zuverlässig prognostiziert hatte, bin ich heute direkt nach dem Unterricht in Richtung Torcello aufgebrochen.
Das ist wieder mit ziemlich viel Bootsfahrerei, ich musste in Murano und Burano umsteigen. Und in Murano war es SO voll am Bootssteg Richtung Burano, dass ich wieder gegangen bin und einen Bummel zwischen den Tausenden Glasnippesläden gemacht habe. Die Insel könnte so schön sein, wenn nicht in jedem Schaufenster so schlimme Dinge lägen!
Ein Boot später habe ich dann doch genommen und mir vorher am Automaten zwei neue Fahrten auf die Karte geladen. Denn meine 90 min. waren jetzt natürlich wieder abgelaufen. Der Automat bestätigte, mein Geld abgebucht und die Fahrten geladen zu haben, und der Eingang zum Bootsanleger sagte „Piep – Karte leer. Bitte neue Fahrten laden.“ Das fand ich empörend. Zumal es schon das zweite Mal war, dass das passiert. Ich sagte es der Touristensortiererin des Actv, und sie sagte „Wo wollen Sie denn hin? Torcello? Das Boot da. Marsch, rauf.“ Also bin ich bis Burano ohne Ticket mitgefahren und musste dann die schwere Entscheidung treffen, ob ich von Burano nach Torcello jetzt noch eins löse oder wissentlich schwarzfahre (obwohl ich ja bezahlt hatte). Ich sag euch nicht, was ich gemacht habe. Auf Torcello selbst ist nicht mehr so viel los wie zu Gründungszeiten der Stadt. Es gibt noch fünf Restaurants der eher teuren Sorte, zwei bis drei Privathäuser, das Museum, zusätzlich ein privates Kunstmuseum und zwei Kirchen nebeneinander. Diese hier ist aus dem elften Jahrhundert:
Die andere ist noch berühmter und schon im siebten Jahrhundert angefangen worden. Im neunten und elften dann jeweils erweitert und umgebaut. Es herrscht strenges Fotografierverbot, das auch regelmäßig eingefordert wird. Eine der Altarnischen mit viel goldenem Mosaik ist hinter Gerüst und Planen versteckt, die anderen sind auch weiträumig mit Seilen abgesperrt, so dass ein Opernglas eine gute Idee gewesen wäre. Der Fußboden ist wieder so ein Puzzlewahnsin aus klitzekleinen Marmordreiecken und -quadraten in den verschiedensten Farben, die zu kunstvollen Ornamenten gepflastert wurden. Die Wand am Ausgang ist ein riesiges Mosaik in sieben „Stockwerken“, das das jüngste Gericht sowie Himmel und Hölle in lustvoller Drastik sichtbar macht. Die Schädel mit den Würmern fand ich SO skurril, da musste ich tatsächlich mal eben warten, bis die Aufpasserin wegguckte, und dann heimlich illegal handeln. Das ist alles in herzallerliebsten winzigen Mosaiksteinchen hingebungsvoll geklebt.
Und ansonsten ist Torcello einfach sehr schön und friedlich und unvenezianisch.
Für die Rückfahrt wollte ich jetzt aber doch eine Fahrkarte lösen – bloß hat Torcello keinen Automaten. Na toll. Bis Burano habe ich also wieder gehofft, dass keiner mich fragt, ob die Venezia-Unica-Card auch geladen ist. Und dann habe ich auf Burano nachgeladen und mir noch eine halbe Stunde die schließenden Läden mit Küchenhandtüchern, Spitzenkragen und zu süßen Keksen angeguckt. Wäre der Handyakku nicht schon leer gewesen von den vielen Fotos vorher, könntet ihr auch davon noch Bilder sehen.
30.9.
Mariangela kommt in Fahrt. Heute haben wir wilde „Periodi ipotetici“ gebastelt, also hypothetische Satzkonstruktionen der Art: „Wenn meine Großmutter Räder hätte, wäre sie ein Omnibus“ oder „Hätte man Venedig nicht auf Holzpfeiler gestellt, wäre da heute noch nur Sumpf.“ Im Vergleich zum Deutschen, das vor und hinter dem Komma den Konjunktiv verwendet, hat man im Italienischen noch viel mehr Spaß, denn für das „Wenn“ darf man einen der zahlreichen Konjunktive nehmen, für das „Dann“ hingegen den Konditional, den es natürlich auch in mehreren Zeiten gibt. „Se avessi saputo quanto fosse buffo (hätte ich gewusst, wie lustig das ist – Congiuntivo imperfetto) non avrei mai cessato di inventare esempi stupidi (hätte ich nie wieder aufgehört, dämliche Beispiele zu erfinden – Conditionale composto)„. Glücklicherweise haben wir das damals Anno Tobak in Perugia schon mal eingetrichtert gekriegt und vor drei Jahren hier recht gründlich wiederholt. Und schon geht es ziemlich leicht, und es macht Spaß, sich absonderliche Beispiele auszudenken.
Uuuuund: Das Wetter ist schön! Heute so richtig. Am Campo San Barnaba (s. Bild) war es SO schön warm, dass ich, weil die sibirische Sayzana doch keine Zeit hatte, spontan beschlossen habe, zum Strand zu fahren. Ohne erst nach Haus zu gehen und ein Handtuch zu holen, SO warm ist es nun auch wieder nicht.
Und damit sind wir bei den lustigen Zufällen, Teil 3. Ich bin zum nächsten Vaporetto-Anleger gegangen, das ist vom Campo San Barnaba aus Ca’Rezzonico. Und da war auch wieder kein Fahrkartenautomat. Geschweige denn ein Verkaufshäuschen. Es gibt Einstiege, die sind nur für Abonnenten. Oder für Leute, die vorher wissen, was sie tun werden. Also lief ich querstadtein Richtung Accademia, der nächsten Haltestelle mit Verkaufshäuschen. Durch Gassen, in denen ich tatsächlich noch nie gewesen bin. Immer mal wieder stößt man auf solche völlig neuen Ecken. Hier zum Beispiel:
Und in einem von diesen Gässchen, wo man mit einem Bodymassindex über dreißig unweigerlich festklemmen würde, war ein Mann dabei, seltsam aussehendes Zeug auf seine Ziegelmauer zu spachteln. Ich bremste scharf. Das sah mir nach Öko-Bau aus. „WAS ist das für ein Material?“, habe ich ihn gefragt. „Hanf“, sagte er („Canapa“), und – ZACK! – waren wir in einem Gespräch über Baustoffe und Verputztechniken. Er fragte mir Löcher in den Bauch über alles, was wir in England gemacht haben, ob wir in den Kalkputz auch Stroh getan hätten, und wieso das Rezept mit Stroh und ohne Kalk überhaupt gehalten habe, wofür die Kuhfladen seien und ob sie sich mit Kalk vertrügen etc. Er war gerade dabei, mithilfe dieses Hanf-Lehm-Kalkputzes sein Haus vorm kommenden Hochwasser zu schützen. Für Samstag ist nämlich mehr Acqua Alta angesagt, als wir letzten Sonntag hatten. Er meinte, er sei ein bisschen knapp dran, wollte aber sehen, ob es noch was brächte.
Er hat mir an seinem Haus dann mit stolzem Strahlen Putzschichten aus dem 15. Jahrhundert gezeigt, völlig intakt (1.Stock, weit überm Hochwasser) und viel besser aussehend als der Zementputz am Nachbarhaus. Völlig klar, alte Baustoffe in Kombination mit Zement, das kann nicht gutgehen. Es war irrsinnig lustig, sich auf Italienisch über das ganze Zeug zu unterhalten, das ich gerade auf Englisch gelernt habe, und er musste öfter mal soufflieren. „Calce“ heißt Kalk (nicht zu verwechseln mit Calcio = Fußball), „argilla“ Lehm bzw. Ton, „paglia“ Stroh. Kein Problem, sich diese Wörter zu merken. Im Gegensatz zu vielen der neuen, die ich heute vormittag hätte abspeichern sollen. Das ist „Canapa“, also Hanf, gehäckselt als Putzzusatz und enorm gut isolierend:
Irgendwann habe ich ihn dann (weil er so viel Ahnung hatte) gefragt, ob er das denn beruflich mache oder zum Spaß, und er sagte, es mache ihm Spaß, weil er draußen sein könnte und mit vielen netten Leuten ins Gespräch käme, sonst würde er ja eher so Kurse geben…
Es stellte sich raus, ich war mit Enrico einem richtigen echten Venzianischen Master Plasterer übern Weg gelaufen! Was er sonst so treibt, ist eher so was hier: http://www.marmorinoveneziano.it/en/ Unglaublich, dass man so was mit Kelle und Kalkpampe hinkriegen kann! Hier kann man ihn in einem kleinen YouTube-Video (2:42 min.) die Technik erklären sehen, in schönem Italienisch. Auf seiner Website sagt er:
Being constantly immersed in the beauty of Venice forces you to change, makes you want to contribute to this beauty.
Versteht sich von selbst, dass er mir Bescheid sagt, wenn der nächste Kurs läuft. Er muss aber noch ein renovierungsbedürftiges Haus finden, das groß genug ist, um eine Gruppe auf die verschiedenen Wände verteilen zu können. Jetzt ist es doppelt schade, dass ich Samstag früh abreise. Ich hätte gern noch gesehen, ob der frische Putz das Hochwasser übersteht.
Am Lido habe ich wieder stundenlang völlig hemmungslos Schneckenhäuser gesammelt und das Mittelmeer kaum eines Blickes gewürdigt. Kann mir jemand erklären, warum ich in Museen, selbst in wunderschönen und sogar bei Tintoretto, nach einer Stunde müde werde, aber quasi unbegrenzt Muscheln und Schneckenhäuser anstaunen kann? Selbst wenn sich alle irgendwie ähnlich sehen, viel ähnlicher als, sagen wir, Verkündigungsdarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts, ist doch jedes wieder eine Quelle des Entzückens und der haltlosen Gier. Womöglich würde ich Museen auch besser überstehen, wenn ich alles angrabbeln und mitnehmen dürfte. Und wenn die Kunstwerke draußen wären und man sie erst suchen müsste. Vermutlich werden bei den Muscheln mehr steinzeitliche Jagd- und Sammelinstinkte angesprochen als vor mit Seilen abgesperrten Olgemälden. Mein Telefon hatte auf der Überfahrt zum Lido behauptet, es sei so gut wie leer, deshalb habe ich euch keine weiteren Einsiedlerkrebse gefilmt. Ich habe aber auch keine gesehen. Andere Leute auch kaum. Die Strandbäder sind inzwischen geschlossen und werden für den Winter eingemottet, und nur ein ganz paar Unentwegte flanieren noch am Meeressaum entlang und hinterlassen verblüffend unterschiedliche Fußabdrücke. Kurz und breit und alle Zehen gleich lang. Mit Knickzeh und langem zweiten Zeh. Nur Ferse und Ballen in den Sand gedrückt, dazwischen nichts. (Wie mag der Fuß aussehen?) Kaum eingesunkene Abdrücke von einem leichten Menschen und ganz tief versackte von – Tintorettos Maria! Oder von jemandem mit Rucksack?
Auf der Rückfahrt mit der Linie 5.2 hing eine fette, lachsfarbene Vollmondscheibe am Himmel und lächelte milde. Leider kriegt das Handy (das frecherweise doch nicht so leer war wie behauptet und selbst nach Telefonat mir Barbara immer noch stur bei 6% Ladung war) diese Farben nicht die Spur hin. Und durch das Weitwinkelobjektiv sieht das auch eher nicht so groß aus. Aber es WAR spaktakulär.
Die Linie 5.2 fährt nicht durch den Canale Grande, sondern außen rum, zwischen Zattere und Giudecca durch (für alle, die die Stadtgeographie im Kopf oder auf google haben) und dann am Hafen vorbei. Weniger idyllisch, aber viel schneller. Und die Boote sind nicht so voll. Und schön ist es immer noch, hier Blick auf die Zattere (das Ufer, wo früher die Holzflöße (= Zattere) an Land gebracht wurden, um da Pfeiler für die nächste Villa draus zu machen):
Mir ist immer noch völlig schaukelig in den Knochen, weil es heute so gewogt hat auf den Bootsfahrten. Diese Boote sind noch aus den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts, habe ich gehört, und sie knattern, qualmen und stinken zum Gotterbarmen. Wenn man hinten draußen sitzt, um Frischluft zu haben, sieht man die kohlschwarzen Wolken aus dem Schiffsauspuff wehen und Richtung Ufer ziehen. Und die Schraube röhrt und rumpelt und tobt unterm Schiff herum, dass ein großer, selbst eher einschüchternder Hund, der an Bord war, völlig panisch wurde und seinem auch nicht viel größeren Besitzer auf den Schoß stieg.
Zu Hause war niemand außer Kater Karlo, der erst mich begrüßte und dann meine Schuhe mit Liebesbeweisen überhäufte. Zum Größenvergleich: Die Schuhe sind Größe 40. Carlito ist also Größe 124 oder so.
Hallo ihr Lieben, der Herbst schleicht sich mit Macht in die Stadt. Heute wusste ich glatt wieder, wie sich hier der Januar angefühlt hat. O.k., übertreiben wir nicht: der späte Februar. Nasses Dauerfrieren.
Zum Glück habe ich gestern noch den vom letzten Wochenende verschobenen Ausflug nach Lio Piccolo gemacht, ihr erinnert euch, die Cavallino-Halbinsel nördlich vom Lido mit ihrer angeblich schönen Landschaft, die ich selbst mal sehen wollte. Cavallino heißt übrigens Pferdchen (Cavallo – Pferd, -ino verkleinert alles, siehe Violino, Bardolino, Cammino…) Sinnlose Anmerkung: -etto verkleinert auch alles (siehe Canaletto, Tintoretto, Geppetto). Also ist auch ein Cavaletto ein Pferdchen. Meint aber in dem Fall keine Halbinsel, sondern nur einen Notenständer.
Das Boot Richtung Cavallino-Treporti fährt über Murano und Burano. Bis dahin war es sehr voll.
Buranos schiefer Kirchturm scheint noch schiefer geworden zu sein.
In Treporti steigt man an einem riesigen Parkplatzgewirr mit Yachthafen aus und ist erstmal verwirrt. Wo sind die versprochenen Fahrradverleiher? Es stellte sich raus, man kann einen anrufen, und der bringt einem das Fahrrad dann hin und holt es auch wieder ab. Ich rief also an. „Klar!“, sagte er. „Aber nicht jetzt. Jetzt esse ich. Ab vier Uhr wieder. Morgen habe ich zu, Montag geht aber auch.“ Es war kurz nach eins. Ich wollte jetzt nicht drei Stunden den Parkplatz angucken, also bin ich erstmal zu Fuß losgelaufen. Und – was soll ich sagen? – die Landschaft war irre, seltsam und unbeschreiblich. Und sehr unpraktisch für praktisch alles. Fortbewegen kann man sich mit dem Boot in den nassen Stellen und ansonsten fast gar nicht, nur auf der einzigen zwei Meter breiten Straße, die man sich am Wochenende mit vielen Fahrrädern und ein paar Autos teilt. (Weiter rechts gibt es noch ein paar andere Straßen, aber da am Ufer entlang ist sonst nichts.)
Bei einem seitlich abzweigenden Trampelpfad habe ich eine Weile Pause auf der Treppe zu ein paar Booten gemacht und den Dolomitenblick mit Sumpf davor genossen.
Lio Piccolo selbst, das vom Schiffsanleger ungefähr 6 km entfernt ist, besteht aus einem Gutshaus (geschlossen und zugenagelt), zwei anderen Häusern (bewohnt), einem Mini-Museum (hauptsächlich Tonscherben, von den alten Römern bis zum 19. Jahrhundert, sowie eine Landkarte mit Sehenswürdigkeiten), einer Kirche samt Turm und zwei Holzschuppen. Es gibt auch eine Gästetoilette, was toll ist, denn die Landschaft hat nicht viele diskrete Verstecke zu bieten. Und hinter dem Toilettenhäuschen beginnt ein Trampelpfad auf einem Spielzeug-Deich, der in großem Bogen vier oder fünf Kilometer um das Dorf herum durch diese „Land“schaft führt. Vielleicht sollte man sie Meerschaft nennen oder Sumpfschaft. Es haben allen Ernstes Leute versucht, da zu wohnen:
Aber offenbar haben sie es aufgegeben. Über viele Wasserläufe führte etwas, das sicher mal als Brücken gemeint gewesen war, anscheinend sogar für Fahrzeuge. Da lag jeweils eine riesige rostige Eisentonne im Wasser, schwimmend, zu der hin und von der weg jeweils zwei völlig durchgerostete parallele Eisenstege führten, ähnlich wie Auffahrschienen für einen Abschleppwagen, bloß länger und nicht so verlässlich. Sind da allen Ernstes mal Leute mit Treckern oder Ähnlichem drübergefahren? Man möchte es sich nicht ausmalen.
Jedenfalls macht diese Landschaft eindrücklich klar, warum Venedig da steht, wo es steht, und warum die Gegend schon seit den alten Römern durchgehend besiedelt ist. Wer hätte beim Anblick solcher Baugrundstücke:
anders reagieren können als mit dem begeisterten Ausruf: „Perfekt! Ideales Bauland! Lasst uns da mal eine Stadt hinsetzen, eine große und schöne, mit 120 Kirchen, 300 Palästen und jeder Menge Mietshäusern bis zu, sagen wir mal, sieben Stockwerken! Das wird toll!“ Sagen wir so, wer so richtig gern Sümpfe trockenlegt und Kanäle zuschüttet und Eichenpfähle, die man von weitweg heranschaffen muss, in den Booden rammt, der hat da eine ideale Spielwiese gefunden. Und Angreifer hatten es tatsächlich schwer, weil sie nie wussten, WIE sie hätte angreifen sollen. Schiffe liefen auf Grund, Pferde versanken im Schlick, zu Fuß (halb laufend, halb schwimmend) ging nur ohne Rüstung und unbewaffnet und führte zu Malaria wegen der Mücken. Floß wäre die einzige Lösung gewesen. Das ist aber nicht einschüchternd. Und man verfährt sich dauernd, weil diese Lagune echt unübersichtlich ist und für Uneingeweihte überall sehr ähnlich aussieht. Und alle Flöße, die ankamen, wurden von den Venezianern sofort auseinandergebaut und zu Pfählen für die Fundamente oder zu hochglanzpolierten Schnörkelschränkchen verarbeitet. Von daher war erst der Bau der „Ponte della Libertà“ das Ende der Freiheit von Invasoren (außer Sissi und Napoleon). Jetzt ist die Stadt bekanntlich gekapert von barbarischen Völkern. Himmel, hab ich viele schwäbische und bayrische Ehepaare auf Mountainbikes getroffen bei der Wanderung! Die schwätzen immer so ungeniert miteinander und unterhalten sich über die Fische, die da aus den Tümpeln springen und von denen man denkt, sie müssten eigentlich mit dem Bauch über den Sand schrappen, weil es so flach ist. Und wenn er dann sagt, „Doch, da ist einer, ein ganz großer!“, und sie: „Nee, da ist nichts, hätt ich doch gesehen.“ Und er: „Dochdoch, eben war er noch da, wo ist er denn hin?“, und ich: „Da vorne!“ – dann haben sie immer sehr überrascht geguckt.
Jedenfalls habe ich den Fahrradbringer gar nicht mehr angerufen, weil es zu Fuß dann doch auch sehr schön war. Ein richtiger Wandertag.
Und heute früh war ich in San Marco in der Messe. Die Kirche ist für Touristen im Moment geschlossen, und alle Angestellten sind in Kurzarbeit. Seit März. Massimo fällt die Decke auf den Kopf, obwohl er weiterhin viele verschollene Komponisten ausgräbt und die Manuskripte am Computer in eine von Chören nutzbare Form bringt. Im Museum arbeiten darf er gerade nicht. Immerhin gibt es Geld, wenn auch noch weniger als sowieso schon. Die Kirche macht nur zu den Gottesdiensten auf, dann aber mit allem Prunk und Pomp und jeden Sonntag mit Chor. Jawohl, wie auch immer die das mit dem Proben machen. Sie haben doppelchörige Gabrielis und ähnliches gesungen, also genau die Stücke, die für San Marco mit seinen vier Emporen geschrieben worden sind. Rechts oben ein Chor, links oben einer, eine schwarzhaarige Dirigentin (oder vielleicht auch ein gut rasierter Dirigent mit Locken, wer will das bei den Entfernungen schon unterscheiden können?) hielt beide Parteien durch energisches Wedeln zusammen, und wiewohl es hinten bei mir alles ein bisschen verschwommen ankam, war es doch unwahrscheinlich schön, mal wieder lebendigen Gesang zu hören. Und dann noch achtstimmig und gut gesungen. Ich heule ja im Moment schon los, wenn auf der Straße ein einsamer Bratscher Bach-Suiten spielt. (Ein wunderbarer Musiker, der hier, weil natürlich auch ansonsten arbeitslos, ab und an auf den Plätzen steht.) Und dann so ein Chor! Von den gesprochenen Teilen der Messe war nicht viel zu verstehen, da hätte ich vorn sitzen müssen. Immerhin durfte die Gemeinde (alle maskiert und in Regiestühlen mit einem Meter Abstand rundrum) bei einigen Wechselgesängen mitsingen. Jedenfalls wedelte der Vorsänger immer auffordernd und zeigte alle Tonhöhen so genau an, dass man die Melodien gar nicht zu kennen brauchte. Die meisten schwiegen trotzdem, aber das ist bei uns ja auch nie anders. Am Ende der Messe wurden alle ganz schnell rausgeschmissen, vor allem die, die durch hektisches Fotografieren zu erkennen gaben, dass sie DOCH Touristen waren und sich nur unter dem Vorwand nicht zu unterdrückender Frömmigkeit in die Messe reingeschmuggelt hatten. Ich bat den Rausschmeißer, dem Chor ganz herzlich von mir zu danken, und zu meiner Überraschung sagte er: „Die kommen gleich runter. Warten Sie einfach hier und sagen Sie es ihnen selbst.“, und dann schleppte er die ersten zwei vom Chor, die ankamen, zu mir hin. Ich zerfloss natürlich mal wieder in Tränen und hatte das Gefühl, bald die Kirche zu überschwemmen. Ich verstehe nicht, wie andere Leute das hinkriegen, so was zu unterdrücken, das geht einfach nicht. Jedenfalls freute es die beiden anscheinend, dass sie mit ihrem Singen die Leute bewegt hatten, sie fragten ein bisschen, wo ich herkäme und was ich machte, und versprachen, dem restlichen Chor weiterzugeben, wie schön das gewesen sei. Und dann kam ich zum Ausgang, und da war tatsächlich alles nass. Aber so richtig. Man kam nur mit Steg aus der Kirche. Nanu, dachte ich, das war doch vorhin noch nicht so?
Es stand noch nicht der ganze Markusplatz unter Wasser, aber doch weite Teile, und es gluckerte munter immer weiter aus den Löchern in den Bodensteinen. Barfüßige Touristinnen staksten von einem vorausschauend aufgebauten Steg zum anderen rüber, die Händler mit den Gummigaloschen zum Überziehen machten schlagartig gute Geschäfte. Und als ich die Gasse hinterm Markusplatz entlanglief, um von der anderen Seite aus zu gucken, fing sie an, vor mir UND hinter mir vollzulaufen, so dass ich zugesehen habe, mich in höher gelegene Gegenden zurückzuziehen.
Es fing dann ziemlich an zu regnen, und ich war sehr froh, dass meine frisch gewaschene Regenjacke (eins der Opfer von Kater Karlos Pfützen) wieder trocken war, so dass sie jetzt wieder nass werden konnte. Die Regenschirmhändler in Venedig sind die beste Wetter-App. Wenn sie alle kollektiv plötzlich Knirpse mit Venedig-Motiven vor die Läden hängen, weiß man, dass es gleich regnet. Ich bin dann noch mal – ganz passend – in die Aqua-Alta-Buchhandlung gegangen und habe nach leicht zu lesenden Krimis Ausschau gehalten. Aber Stieg Larsson auf Italienisch schien mir doch eine unpassende Kombination. Und es war so voll da drin, dass man ständig Platz machen musste, damit andere zur Kasse durchkamen, und da bin ich bald wieder gegangen.
Auch bei Laura in der Wohnung ist es schlagartig frostig. In Italien gibt es nämlich Heizgesetze. Das Land ist in sechs Zonen unterteilt, die völlig unvorhersehbar über die Landkarte verteilt sind. Drei kleine Zipfel Siziliens sind Zone B, andere Stellen Zone C, die hochgelegenen Stellen des Appenin sind E oder so und der äußerste Norden F. Und für jede Zone ist ein verbindliches Datum festgelegt, ab dem man heizen darf und bis wann. Und wie viele Stunden am Tag. In Stufe B glaub ich 1.12.-29.2. bis zu 6 Stunden am Tag. In Venedig immerhin ab dem 15.10. und bis zu 12 Stunden – aber es ist erst September. Pech gehabt. Da diese Gesetze vor der Erfindung der Klimaanlagen erlassen wurden, gibt es originellerweise keinerlei Einschränkungen für den Gebrauch dieser Geräte, unabhängig davon, ob sie mehr oder weniger Energie verbrauchen als das Heizen. Aber Laura hat mir ein Rekord-Ding von Piumino hingelegt, eine Federdecke von vermutlich 2,20 x 2,20 m, da kann mir nichts mehr passieren. Morgen Abend wollen wir zusammen kochen, ein toskanisches Rezept, weil wir beide fanden, wir sähen uns sonst zu selten. Maya, ihre Tochter, ist aus Rom zurück und freut sich riesig, da nächste Woche nun ganz hinzuziehen, sie hat nämlich einen von zehn Studienplätzen für Deutsch da ergattern können. Es gibt schon Leute mit seltsamen Vorlieben!
Hallo ihr Lieben, der große Unterschied zwischen Sommer und Winter, wenn man einen Blog über die Erlebnisse in Venedig schreiben will, ist, dass man im Winter freiwillig, weil mit Nase voll vom Frieren, ins heimische Mietzimmer zurückkehrt und dort Zeit zum Schreiben hat. Selbst wenn es auch da nicht furchtbar warm ist. Jetzt hingegen könnte jeder Tag der letzte sein, an dem man gern draußen ist. In der Tat fängt es morgens inzwischen kühl und grau an, und man denkt: „Och schade, das wars mit dem Sommer.“ Und freundlicherweise kann man die Thermoweste dann doch irgendwann wieder in den Rucksack packen und sich draußen in die Sonne setzen. Außer wenn es zwischendurch so niagarafallmäßig gießt wie gestern Abend. Und da ist dann einfach wenig Gelegenheit zum Schreiben, außer man nimmt den Computer mit und setzt sich auf die Schulterrasse zwischen Oleander und Weintrauben.
Der heutige Ausflug ist jedenfalls schon mit Fragezeichen angesetzt. Wenn es gießt (se piova a dritto), fällt er aus. Wenn es nur nieselt (se pioviggina), findet er statt. Alberto hat uns schon gewarnt, dass der Maßstab für „gießen“ und „nieseln“ in Italien verblüffend anders ist als anderswo. „Aha“, sagte ich, „du meinst, gestern Abend, das war Nieseln?“ „Ieri?“ sagte er, „Questo era l’apokalissi!“ (Ich erinnere daran, dass Italiener nicht gern mehr als einen Konsonanten pro Silbe haben und deshalb aus so unsanglichen Konsonantenhaufen wie „ps“ immer vereinfachend ein „ss“ machen. Und so griechische Unarten wie Ypsilons müsste man ja „issilone“ aussprechen und gibts von daher von vornherein nicht.)
Wir haben schon den Anfang eines Romans von Cesare Pavese gelesen, in dem furchtbar viel historische Weinbau-Gerätschaften vorkommen, was immer sofort den Eindruck erweckt, man hätte einen entsetzlich unzureichenden Wortschatz. Jedenfalls ist ein „cavagno da vendemmia“ ein Traubenlesekorb (der bestimmt auch auf Deutsch einen Eigennamen hätte, der mir unbekannt ist) und ein „torchio“ eine Traubenpresse. Wenn man sagt, man habe jemanden über etwas ausgequetschrt, sagt man hier, man habe ihn unter die Traubenpresse gepackt: „l“abbiamo messo sotto torchio.“ Womöglich steckt auch unser „Wir haben ihm die Daumenschrauben angelegt!“ implizit mit drin.
Jedenfalls strotzt der Roman „La luna e i faló“ (Der Mond und die Landwirtschaftsresteverbrennfeuer) vor wohlgesetzten und eleganten Formulierungen, die das Herz erfreuen, wenn man sie erstmal verstanden hat. Allerdings dauert es bis dahin gewöhnlich so lange, dass ich zu Haus das Buch längst zur Seite gelegt hätte.
Kater Karlo hat, da er an mein Bett nicht mehr ran konnte, jetzt Lauras Bett für seine Pfützen erkoren. So dass auch sie anfing, ihr Zimmer abzuschließen. Ebenfalls mit dem Badezimmerschlüssel. Ansonsten ist er aber ganz freundlich und lässt sich streicheln.
Beim Ausflug mit Marina zum obigen Platz (San Giovanni e Paolo, mit der Fassade vom Krankenhaus und der Scuola grande San Marco, die ihr hier seht), konnten wir Marina kaum zuhören, weil die fußballspielenden Kinder so viel Aufmerksamkeit abzweigten. Vor allem, als eins seinen Fußball anstatt gegen die Sarkophage der Kirchenfassade in den Kanal schoss und dann verzweifelt von Brücke zu Brücke rannte, um ihn irgendwo wieder rauszufischen. Der Ball trieb friedlich immer weiter mit dem Wind, dieweil der kleine Junge wie Spiderman an den Ecken der Häuser über dem Wasser klebte und mit einem Fuß nach dem Ball tastete. Irgendwann war er wieder da und kickte ins Sarkophag-Tor, er hat es also hingekriegt, bevor der Ball die Lagune erreicht hatte.
25.9. Gestern war ich mit Rena beim Workshop „Monotipo Venexiano“ (Venezianische Monotypie) in der Werkstatt von Roman Tcherpak. Wer gucken will, kann das hier auf seiner Facebook-Seite oder hier im kurzen Video. Wir fingen ein bisschen später an, weil Rena irgendwo mit dem Vaporetto festhing, aber der Meister war da recht entspannt und qualmte derweil noch seine Werkstatt mit Substanzen fraglicher Legalität voll. Die unverputzten Ziegelwände hängen dicht an dicht voller Schwarzweißdrucke einschlägiger und schöner Venedig-Motive, die zwischen holzschnittartigen Kanten und wolkig diffusen Flächen changieren, alle auf dickem Büttenpapier, das eine Freude zu sehen und zu berühren ist. Alle paar Minuten drückt ein Touristenpaar sich die Nase an der Scheibe platt und sagt: „Oh, guck mal!“ Ja, meistens auf Deutsch. Das ist gerade ziemlich zweisprachig hier. Noch ein paar Franzosen, und das wars so ziemlich.
Ich habe Rena am Anfang der Via Garibaldi abgeholt, einer der beiden großen Prachtstraßen, die Napoleon und Genossen hier hinterlassen haben. Sie haben, aus angeblich hygienischen Gründen, überall mal zwischendurch einen Rio zugeschüttet, hier sogar einen ziemlich breiten, und erhielten so – schöner Zufall! – eine breite Straße, die sich trefflich für Militärparaden eignete. Das wäre ja sonst überhaupt nicht gegangen in Venedig! Man marschiert zu viert nebeneinander los, mit Trommeln und Pfeifen und Tuba, und dann verengt sich die Gasse zu Schulterbreite mit überhängenden Mauervorsprüngen, und alle Soldaten müssen sagen: „Oh, Moment. Nach Ihnen, mein Herr. Nein wirklich, ich bitte Sie! Hups, meine Tuba! Wie krieg ich die Beule jemals wieder…. nein, bitte, schlängeln Sie sich doch vor!“ Das würde einfach nicht sehr beeindruckend wirken.
So aber eilten Rena und ich unbehindert bis ganz ans Ende, da wo plötzlich der Rio wieder an die Oberfläche kommt, und drängten uns am rechten Ufer an Second-Hand- und Schmucklädchen vorbei bis zum Atelier „Oiavoi“. Der Künstler gab uns Schürzen in praktischem Schwarzgrau mit MV-Monogramm und das handgeschriebene Rezept für die Technik und alles, was man dazu braucht, zum Abfotografieren. Dann legten wir los, beschellackten die Rückseite von lasergedruckten Venedigfotos, möglichst ohne dabei alles unter Schellack zu setzen, föhnten, entfernten das oberste Blatt des Unterlage-Zeitungsstapels, gummierten die Vorderseite (ohne dabei alles unter Gummilösung zu setzen und ohne irgend ein Fleckchen auszulassen), föhnten wieder, bis das Papier knisterte, und rollten dann dicke schmierige pechschwarze Druckfarbe drauf.
Das alles war deutlich trickier als es hier klingt. Die erste Lage muss nämlich einfach zügig verteilt werden, aber nicht bis zum Rand, damit es keine Schweinerei gibt, und dann darf man bloß nicht weiter zügig verteilen, sondern muss mit aller Kraft und allem Gewicht diese Walze ins Papier stemmen, damit auch das letzte Fleckchen Ölfarbe platt- und in die Poren des Papiers gequetscht wird. Jedenfalls da, wo das Blatt nicht von Gummi bedeckt ist. Also überall, wo die Plastikteilchen des Laserdrucks das Papier schon abgedeckt haben. Rena war liebevoll und zartfühlend mit ihrer Walze, und Roman sagte immer: „Richtig draufdrücken. Mehr Gewicht! Noch mehr!“ Und er zeigte es uns und lehnte sich auf seine Walze, dass der Glastisch sich mehrere Zentimeter durchbog. Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass Glastische sich überhaupt biegen KÖNNEN! Er meinte aber, der Tisch hielte das schon aus. Da er das seit zwanzig Jahren macht, wirds wohl stimmen. Wenn die Farbschicht absolut lückenlos tiefschwarz ist (notfalls mit dem Daumen und viel Gewicht nachbügeln), sprüht man eine Menge Wasser auf die ganze Sache und fängt dann mit einem äußerst ramponierten Aquarellpinsel an, die Farbe extrem sanft und liebevoll wieder runterzunehmen. Und wenn das leicht geht, hast du in der Runde davor zu wenig aufgedrückt. Bei mir ging es ziemlich einfach, was ich ganz angenehm fand. Alle 30 Sekunden muss man den Pinsel mit einem Pabypopotuch reinigen (mit einem unbenutzten), damit er wieder Farbe aufnehmen kann. Und Stück für Stück schält sich aus dem nachtschwarzen Schlick wieder die venezianische Gasse mit der Wäscheleine oder die Kirche Santa Maria della Salute raus. Das ist toll, weil es sich so ANFÜHLT, als würde man malen, bloß sieht das Ergebnis viel überzeugender aus als sonst. Man muss aber vorsichtig sein, dass man das Papier nicht durchpinselt, es ist immerhin nur normales Druckerpapier trotz aller Vorbehandlung. Und wenn dann nach erstaunlich langer Zeit die schwarze Farbe weggeputzt, das Papier noch nicht durchlöchert hat und das Motiv klar zu sehen ist, dann kann man drucken. Entweder mit so einer Art Wäschemangel oder einfach mit einem Esslöffel auf der Rückseite des auf die „Druckplatte“ gelegten Büttenpapiers reibend.
Und dann kommt so was zum Vorschein.
Aha. Da ist wohl was noch nicht ganz perfekt gelaufen. Roman warf einen Blick aufs Blatt und sagte: „Fester aufdrücken beim Rollen, sanfter pinseln“. Sinngemäß. Die Konversation war in wildem Mix aus Italienisch, Deutsch und Englisch, je nach Erfordernis bzw. je nachdem, welches Wort einem zuerst einfiel. Rena und ich fingen also mit dem zweiten Exemplar an, diesmal schon ohne Anleitung. Na ja, fast ohne. Immer wenn wir was ganz furchtbar anders machten als gezeigt, sagte er: „Mehr drücken. Noch mehr. Das wird so nichts. Ohne Druck funktioniert das nicht.“ Na ja, wenn man genau überlegt, ist es ja auch eine Drucktechnik. Keine Farbverteiltechnik. Und siehe da, beim zweiten Mal war es schon extrem viel schwieriger, die Farbe wieder runterzukriegen. Sie klebte am Papier wie Pech. Frustrierend, aber ein gutes Zeichen. Wenn man dann WIRKLICH viel Wasser aufs Papier sprüht und WIRKLICH oft den Pinsel reinigt, geht es halbwegs.
Roman pinselte immer mal mit, und es sah spielend leicht aus. Mist. Wieder so eine Sache, die man erst ÜBEN muss, um sie zu können! Jedenfalls war der zweite Druck dann schon so:
Kein Vergleich zu vorher! Die fette schwarze Fledermaus oben rechts im Bild war ein Fleckchen ohne Gummilösung.
Hochbefriedigt über den Nachmittag, wenn auch im vollen Bewusstsein der weiteren Verbesserungswürdigkeit unserer Druckfähigkeiten zogen wir wieder ab, nachdem wir noch das Hinterzimmer seiner Werkstatt mit den „richtigen“ Kunstwerken besichtigt hatten, und machten uns auf den Weg zu Kirche Santa Maria Formosa, wo der Kunstgeschichtsstpaziergang mit Marina stattfand. Ein bisschen hektisch flitzten wir durch eine Menge ziemlich unübersichtlicher Kreuz- und Quer-verbindungen, schafften es aber genau bis sechs.
Marina verblüffte uns mit der Auskunft, dass der Name der Kirche „die wohlgeformte heilige Maria“ bedeutet. Wahlweise auch „die gutgebaute heilige Maria“. Oder die vollbusige oder üppige heilige Maria. Weil der Mensch, der sie hat bauen lassen, das wohl aufgrund eines Traumes gemacht hat, in dem sie ihm in – nun, nicht gerade in Pin-Up-Maßen erschienen ist, aber wohl doch in deutlich weniger umpustbarer Gestalt, als man das traditionell so kennt. Gleich dahinter steht der Palazzo Querini Stampalia, der u.a. eine riesige Bibliothek beherbergt, mit 20.000 uralten Büchern, die man nur mit Vorbestellung, Leumundszeugnis und Handschuhen anfassen darf, und 400.000 anderen. Und sie hat bis in die Nacht und an Feiertagen geöffnet, damit man immer irgendwo seine Ruhe vor den Touristen haben kann. Und in der angrenzenden Straße gibt es eine wahrhaft umwerfende Buchhandlung für gebrauchte und neue Bücher, die ich noch nicht kannte, und das ist eine Schande! Sie ist ziemlich verwinkelt und mit zwei Hinterhöfen, in denen man zu Skulpturen zusammengeleimte alte Bücherstapel beklettern kann und soll, mit einem Gondelruder als Geländer, um den Ausblick über die Hofmauer zu genießen. Das ist das bläuliche Bild etwas weiter oben. Und dies ist einer der Räume:
Mehrere Katzen arbeiten da mit, räkeln sich auf Bücherstapeln und animieren die Kunden zum Kauf. Da die „Acqua-Alta“-Buchhandlung inzwischen in etlichen „Geheimtipp!“-Büchlein besprochen wurde, ist es kein Geheimtipp mehr, sondern eine weitere Besucherattraktion und hat deshalb jetzt auch Gondel-Kühlschrankmagneten, historische Venedigdrucke und Reiseführer, aber dennoch: Das ist mal ein Laden, der verblüfft.
Heute war der letzte Tag mit Alberto, und er lebte sichtlich auf im Gedenken an den bevorstehenden Urlaub. Er schüttelte wieder Seitenpfade der Grammatik und Wortbedeutungen aus dem Ärmel, erklärte uns, wieso in italienischen Zeitungen statt der Ministerien oder Regierungsorgane immer der jeweilige Hügel Roms genannt wird oder der Name der Villa, in denen sie residieren („Viminale“ ist also verschlüsselt für „Innenministerium“, „Quirinale“ steht für den Präsidentenpalast und „Palazzo Chigi“ für den Ministerrat) und ließ uns die Bedeutungsfeinheiten von „divulgare“ (die Information rauslassen), „pubblicare“ (veröffentlichen), „proclamare“ (verkünden) und „rivelare“ (enthüllen, sichtbar machen) am Duft unterscheiden. Ist eine Sache brauchbar, nützlich oder nötig? Ist dieses Internetportal eine Goldgrube, eine Quelle, eine Ausgrabung oder nur eine Möglichkeit? Dinge, die man im Deutschen gelassen mit Intuition und Sprachgefühl erledigt, sind in einer Fremdsprache eine Goldgrube an Stolpermöglichkeiten verschiedenster Art.
Hat man sich so sehr den Kopf zerbrochen, dass man medizinische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, kann man hier
welche finden. Das ist der Eingangssaal des Krankenhauses. Wer wollte sich angesichts solcher baulicher Gegebenheiten etwa kleinlich über etwaige Qualitätsmängel der Versorgung beschweren? Außerdem ist es eins der wenigen Krankenhäuser weltweit, in das man mit dem Boot reinfahren kann. Von hinten gibt es eine eingebaute Wassergarage für die Ambulanzboote.
Nachher treffe ich mich mit Massimo und Stefania! Die längjährigen MitleserInnen erinnern sich vielleicht, dass das „mein“ Chorleiter von damals war, mit seiner Frau. Leider hat sich die Zusammenarbeit mit ihm und dem Ensemble Monteverdi aufgelöst. Er hatte das Ensemble einem jungen Kollegen „geliehen“ zum Üben, und der Chor hat dann beschlossen, mit dem Neuen weiterzumachen statt mit seinem Gründer. Das schmerzt bestimmt sehr. Massimo ist jedenfalls nicht mehr gut auf einige aus dem Chor zu sprechen.
Für heute erst mal Schluss und viele liebe Grüße! Julia