Knotenzeichnen V – Viererknoten mit Dreierknoten kombiniert

Hallo ihr Lieben,

frohe Ostern euch allen!
Miserables Timing, heute mit dem Karfreitagsthema Kreuz anzukommen – aber eher habe ich es nicht geschafft. Dieser Singkurs ist ein Vollzeitjob. Macht aber Spaß. Mir jedenfalls.

Und gestern, während diese Knotenfilme am Zaun meines Nachbarn Otto friedlich hochluden (mehrfach, weil YouTube dann immer beschloss, länger als 15 Minuten, das sei denn doch zu viel), hat gleich zweimal je ein wohlmeinender Mensch mein Handy dort eingesammelt und irgendwohin gebracht, und ich musste es dann suchen. Spät abends kam eine Mail von Otto (ich lasse mein Handy meine Mailadresse anzeigen mit dem Satz: „Wenn gefunden, bitte da Bescheid sagen“), er hätte da ein Handy an die Tür gebracht bekommen…. – und da ging es natürlich nicht mehr, den Blogbeitrag noch zu posten. Und heute vormittag bin ich dann wieder FilmAufnehmen gegangen, das dauert auch IMMER länger, als man so denkt. Noch dazu kamen auf der ultimativ einsamen Wiese, wo GARANTIERT keine Touristen lang kommen, weil man weder mit Auto noch mit Fahrrad da hinfahren kann, und zu Fuß und mit dem Trecker gehts, dann plötzlich zwei Leutchen auf dem Quad angeknattert. Das geht natürlich auch, aber wer rechnet mit so was? Ich stand da singend und gitarrespielend (ja, es darf gelacht werden) mit lose herumliegender Plastiklunge, Gummibändern, Salzpäckchen und Picknicksachen im Grünen, da fingen die an, da Nebengeräusche zu machen. Wir verständigten uns aber schnell. Sie waren auch davon ausgegangen, dass man da heute garantiert keinen träfe, wollten aber nur einmal den Fluss begucken und fuhren dann wieder. Wir sind im Emsland. Die ultimativen Sehenswürdigkeiten für junge Leute sind… Flüsse. Zumindest für die, die das für den Bau des Napoleondamms extra 200 m versetzte Hünengrab schon gesehen haben.
(„Wenn ich ein Haus im Grünen hab,
dann will ich auch ein Hünengrab“, sollen die ersten Moor-Trockenleger schon gemurmelt haben, als sie sich hier niederließen.)

Jetzt aber zum Zeichnen: Mit dem bisherigen Vorwissen kann man nun anfangen, die beiden Knotenformen miteinander zu kombinieren, indem jeder Arm des Viererknotens am Ende mit einem Dreierknoten verziert wird, was eine schöne Kreuzform ergibt.
Ich musste den Film wie gesagt teilen zum Hochladen. War zu lang diesmal.
Nutzt das ganze so, wie es für euch passt. Entweder von wichtiger Stelle zu wichtiger Stelle springen und mein Gequassel ignorieren – oder meditativ versunken parallel mitzeichnen. Oder was auch immer.

Teil 1:

Teil 2:

Hier, passend zum Karsamstag und als Appetithäppchen aufs Singen, noch etwas, das ich gestern entdeckt habe: Delphine Galou. Wie sie „Erbarme dich“ aus der Matthäus-Passion singt, das finde ich wundervoll.
Der Filmemacher hatte aber offenbar Angst, man würde sich langweilen, bloß mit Bach und grandiosen MusikerInnen, und hat noch viel Zusatzkunst reingebaut.

Und wer eher nicht so „klassisch“ unterwegs ist, mag vielleicht dies neue Lied von Robert Metcalf, wie Stipendiat der Celler Schule und, glaube ich, der einzige Nicht-Muttersprachler, der da je mitgemacht hat. Wie er als Engländer auf die deutsche Sprache draufgucken konnte und Schätze heben, die uns allen bis dahin entgangen waren, das hat mich beeindruckt. Wenn er für seine Programme als “Englishman in Berlin“ schreibt, tut er das aber auf Englisch, also auch hier.

Gerade habe ich eine gute Stunde mit Otto im Garten gesungen. Wanderlieder, Hamburger Veermaster, Bolle reiste jüngst zu Pfingsten – was man denn Ostern so singt. Und ich wurde spontan noch fürstlich verpflegt, weil sie das bei Maria und Klaus (den Nachbarn mit der Fleischerei) bestellte Festtagsmenü nicht geschafft haben. Wenn man bei Maria und Klaus für zwei Leute bestellt, kriegt man immer für mehr als vier. Nachdem ich dran war, war immer noch genug übrig, dass die beiden noch mindestens eine Mahlzeit davon haben.

Viele liebe Grüße und noch schöne Festtage!
Julia

Vorankündigung Singkurs! Und Knotenzeichnen IV – einfacher Viererknoten

Hallo ihr Lieben,

darf man, wenn Corona UND Karfreitag zusammenfallen zum Cor-Freitag, überhaupt gute Nachrichten verkünden?
Doch, unbedingt, finde ich.

Deshalb hier eine Ankündigung (vor allem für die, die schon länger dabei sind und den Blog nicht extra für den Singkurs abbonniert haben):

Ab Dienstag gibt es hier meinen allerersten Online-Singkurs! Fünf Tage lang. Weil das mit dem Pantomimekurs mich tatsächlich überzeugt hat, dass so was geht.
Jeden Tag schicke ich einen Blogbeitrag mit einer guten Stunde Kursvideo mit Spielereien zum Körpergefühl, Erklär- und Mitmacheinheiten zu jeweils bestimmten stimmlichen Abläufen, grundlosem Gelächter und Kanons, die wir mindestens zweistimmig miteinander singen können. Wer noch Singwütige kennt, sage das gern weiter. Wer seine Mailadresse auf http://www.reisemeise.travel.blog eingetragen hat, sollte jeden Morgen gegen 6:00 Uhr die Kurs-Mail bekommen. Wann ihr sie abruft und wann und in wie vielen Bröckchen und wie oft ihr das Video anseht und mitsingt, ist euch überlassen. Zusätzlich wird es immer die Noten der Stücke und ein paar Links für die unermüdlich Neugierigen zum Weitermachen und -lernen geben.

Für alle, die nicht coronabedingt oder sonstwie knapp bei Kasse sind, habe ich jetzt einen Paypal-Link für freiwillige Beiträge eingerichtet. Wer möchte, kann mir unter PayPal.me/reisemeise einen beliebigen Betrag (viele Nullen machen nichts, wenn sie nur rechts von den anderen Ziffern stehen und nicht links… :-)) hinterlassen. Und wer das nicht kann oder will, macht bitte einfach so mit.

JETZT aber zum versprochenen Viererknoten:

Alles klar?
Ich wollte dieses hier eigentlich gestern schicken und heute dann die Erweiterung zu einem richtig schönen Kreuzmuster, aber ich habs nicht geschafft, weil dieses Singkursprojekt tatsächlich Unmengen Zeit braucht. Wenn man so was noch nie gemacht hat. Was ich alles neu lerne im Moment – das sind Lastwagenladungen.
Das Kreuz kommt hoffentlich morgen.

Und noch was RICHTIG Schönes: unter diesem Link https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de könnt ihr (ab min. 5:00) meine Freundin Ute Engelke in der Marktkirche Hannover Bachs „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ aus der Matthäuspassion singen hören. Mit Elisabeth Schwanda, Blockflöte, und Ulfert Smidt, Orgel. Zum Weinen schön.

Viele liebe Grüße und einen schönen Cor-Freitag!
Julia

Knotenzeichnen III: Variationen des Dreierknotens

Hallo ihr Lieben,

habt ihr schon losgezeichnet? Klappt es?
Für die, die schon die langsam aufziehende Knotensucht spüren (eine reelle Gefahr, die viel Papier schlucken kann), gibt es hier noch eine große Spielwiese von Varianten des ersten Knotens durch Verdopplung und verschiedene Flechtmuster.

Im Film sage ich kurz was zu jedem. Damit man sie aber in Ruhe noch mal angucken kann, füge ich sie auch als Fotos ein:

Dreierknoten einfach farbig
Zwei Dreierknoten ineinander

Die Bänder kreuzen sich an jeder Schlaufenspitze, dadurch wird aus zwei parallelel Bändern wieder eins.

Die beiden Bänder werden miteinander verdreht (bzw. 4 x gekreuzt).
Man sieht gut, dass es zwar komplizierter aussieht, der Schönheit der Form aber nicht unbedingt zuträglich ist.
Die beiden Bänder laufen wieder parallel, spielen aber mit der Form. Hier können spannungsvollere Linien entstehen.
Hier laufen drei Bänder parallel. An jeder Schlaufe probiere ich eine andere Kreuzungsvariante aus.

Und hier sind noch drei andere Möglichkeiten, die einzelnen der drei parallelelen Bänder miteinander zu verflechten.

Morgen können wir darangehen, dasselbe mit vier „Ortschaften“ und einem Verkehrskreisel zu machen.

Liebe Grüße und viel Spaß beim Ausprobieren
Julia

Knotenzeichnen II: Chaosknoten

Hallo ihr Lieben,

eventuell hat der / die eine oder andere sich ja schon gestern ans Zeichnen gewagt. Wer noch mehr ausprobieren will, kann sich hier mit den wildesten unregelmäßigen Knotenformen vergnügen. Das ist super, um das Prinzip des „Drunter und Drüber“ zu verinnerlichen und zu merken, was für Schönheit entsteht, wenn wir Chaos und Drunter und Drüber mal hingebungsvoll in unser Leben reinlassen.

Viel Spaß beim Ausprobieren!

Wer den Film in der Mail nicht sehen kann, kann auf http://www.reisemeise.travel.blog/kreativgestapelt klicken, da ist er.

Liebe Grüße
Julia

Knotenzeichnen I – einfacher Dreierknoten

6.4. Knotenzeichnen: Einfacher Dreierknoten

Hallo ihr Lieben,

wie angekündigt, können alle, die sich 1. langweilen und 2. Lust haben, mal das Zeichnen keltischer Knoten auszuprobieren, sich hier vergnügen. Ich fange mal mit einem übersichtlichen Modell an. Und damit es niemanden abschreckt, habe ich es in seiner ganzen Schief- und Krummheit belassen, ohne daran rumzuradieren. Weil: Auf DEM Niveau könnt ihr auch anfangen. Schöner wirds später.


Wer jetzt nur in die Mail guckt, die automatisch ankam, sieht das Video vermutlich nicht, kann es aber auf der Reisemeise-Kreativgestapelt-Seite angucken. (www.reisemeise.travel.blog/kreativgestapelt)

Zugegeben, der Knoten ist nicht nur schief, sondern auch mager. Letzterem zumindest lässt sich abhelfen, ohne einen neuen zeichnen zu können. Wie er breit und prachtvoll wird, zeige ich euch hier:

Und dann könnt ihr natürlich anfangen, ihn mit Aquarellfarben, goldenen Eddings oder Stickerei zu verzieren. Das Prinzip sollte klar sein, und das reicht als Einstieg. Morgen gibts den Chaos-Knoten, für alle die das Unvorhergesehene lieben (oder lernen wollen, damit klarzukommen.

Liebe Grüße
Julia

5.4. Pantomimose

Hallo ihr Lieben,
ich hatte euch ja gesagt, ich würde mitteilen, wie es ist, bei gemischtem Wetter einen Bewegungslehrgang mit Gruppentraining als Videokonferenz im Garten meiner telefonkabelfreien Hütte zu machen.

Kurz: schön wars. Und erstaunlich anstrengend. Was man selbst auf und mit einem IKEA-Klappstuhl der windigsten Sorte für intensive Kräftigungs- und Dehnungsübungen machen kann, ist verblüffend. Ich habe Muskelkater in vielen Ecken der Geographie, die bisher eher weiße Flecken auf der Landstraße waren. Und das Bewegungsgefühl hat sich sogar durch die paar Tage schon gesteigert.

Donnerstag Abend haben wir (ich mit Wärmflasche, Steppweste, Daunenjacke und Mütze) erstmal gemeinsam getestet, was diese Webex-Videokonferenz taugt, wenn da 20 Computer zwischen Emsland, Wien und Berlin dranhängen und alle, die dransitzen, versuchen, zu reden und gesehen zu werden.
Das ging schon mal nicht, stellte sich raus.
Letztendlich wurden uns dann allen die Mikrophone abgeschaltet – was für einen Pantomimekurs eigentlich nur folgerichtig ist – und wir konnten je nach Bandbreite der Verbindung entscheiden, ob wir unsere Kamera an- oder abschalten wollten. Und das erwies sich als enorm befreiend. Wann kann man sich schon mal als Neuanfängerin in so einen Kurs stellen, in dem sicheren Wissen, dass keiner es mitkriegt, wenn man sich bescheuert anstellt?
Außer den Nachbarn, klar. Aber die sind ja einige Merkwürdigkeiten gewohnt und warfen beim Spazierengehen meist nur einen beiläufigen Blick auf mich, wie ich da drei Tage lang Tupperdosen durch die Gegend schob und auf nicht vorhandene Herrenräder stieg.

Die Testrunde Donnerstag Abend war ziemlich flott vorbei, was gut war, weil es regnete, und ich konnte meines Amtes walten und Saskia im Trockenen und Warmen ein paar erste Gitarrenakkorde beibringen. Endlich mal wieder berufstätig sein, wenn auch in einem Beruf, von dem ich nicht viel mehr Ahnung habe als vom Backen. Nee, stimmt nicht. Wir haben auch einen Haufen Musiktheorie gemacht, wo ich ja immer gleich sehr missionarisch werde. Außerdem hat sie meine Methode, das Knotenzeichnen zu erklären, getestet, und es stellte sich raus, dass sie funktioniert. Saskia befand es für eine äußerst entspannede Tätigkeit, was mir ja selbst auch immer so geht. Das also demnächst auf dieser Welle.

Freitag haben wir noch mehr Gitarre gespielt und Knoten gezeichnet und festgestellt, dass meine Küche sich nur bedingt dafür eignet, zuverlässig zwei Meter Abstand zu jemandem zu halten, und dann war es auch schon Zeit für die Pantomime-Einheit. Zunächst mal zwei Stunden brutalsten Körpertrainings (für jemanden, der sonst nur wandert und zum Einkaufen radelt), bei denen ich mich zunächst immer um Saskias Auto (also Claudias Auto, aber Saskia durfte es benutzen, um herzukommen) rumquetschte, denn dahinter war Platz, aber kein Empfang, und davor und daneben war es umgekehrt. Aber auch da war der Empfang lausig, man sah und hörte oft wenig, und es war eiskalt. Ich war noch nicht überzeugt von der ganzen Aktion. In der Pause hat Saskia dann umgeparkt, und wir stiegen von den Trockenübungen auf die lustigen Sachen um, imaginäre Widerstände ziehen und schieben und werfen und so, und meine Laune stieg. Wie ziehe ich an einer Hundeleine, wenn ein Dackel am anderen Ende ist, wie, wenn es ein Bernhardiner ist? Oder eine Mücke? Im Grunde genau die Dinge, die ich im Stimmbildungskurs auch immer mache, aber jetzt noch viel genauer und in fürs Publikum leicht zu entschlüsselnde Einzelteile zerlegt. Beim Ziehen zuerst im Becken anfangen, dann die Brustwirbelsäule einsetzen, dann erst die Schultern und ganz zum Schluss die Arme. Zieht der Hund nun seinerseits, geht es umgekehrt: erst werden die Arme langgezogen, dann folgen die Schultern, dann der Oberkörper, dann muss ich womöglich hinterherstolpern.
Wenn ich das nicht beachte und etwa mit dem Oberkörper anfange, sieht es schon nicht mehr wie Gezogenwerden aus, sondern eher wie Schieben.

Und gestern, wo der Kurs schon morgens losging, war das Wetter so schön, dass die Jacken und Westen Stück für Stück zu Boden sanken, während wir ausprobierten, wie man pantomimisch Bälle, die nicht da sind, zwischen den Händen so bewegt, dass die Zuscheuer sie sehen, wie das Publikum unterscheiden kann, ob wir gerade einen Apfel, eine Knoblauchzehe, ein Treppengeländer oder eine Schachtel gegriffen haben, allein an der Position und Spannung der Hand, und wie man Fahrradfahren vortäuscht. Leider ist letzteres ohne Fahrrad viel anstrengender und schwieriger als mit einem solchen, weil man permanent freihändig auf einem Fußballen von so hoch wie möglich bis Bodenberührung mit der Ferse wippt, ganz langsam und gleichmäßig, während das andere Bein in der Luft Kreise tritt und man sich an nichts festhalten kann als an einem Lenker aus besonders klarer Luft. Das verträgt noch ein paar Übungseinheiten.
Mit Hilfe zweier Konservendosen haben wir dann noch die Flugbewegungen großer Greifvögel geübt, das wäre hier entschieden zu kompliziert zu erklären, funktionierte aber (wenn man den anschließenden Muskelkater toleriert) gut.
Mittags in der Kurspause haben Saskia und ich in der Sonne am Fluss ihr Repertoire an Gitarrenakkorden auf sieben oder so erweitert, womit sie in drei Tagen so ziemlich alle gelernt hat, die ich auch kann, und festgestellt, dass es klappt, nach Gehör zu entscheiden, wann man wechseln muss. Das macht diese Sportart ja viel einfacher. Dann musste sie leider schon wieder los, denn Claudia konnte das Auto nicht länger entbehren.

Und ich lernte, verzweifelt an einer in der Luft feststehenden Tupperdose zu zerren und zu schieben, an ihr zu baumeln, wenn sie wegfliegt und sie mit aller Kraft zu Boden zu drücken.
Es hat etwas absolut Großartiges, so viel Aufmerksamkeit, Übung und Konzentration für etwas aufzuwenden, das so wenig konkreten Alltagsnutzen hat.

Heute, am dritten Tag waren die zwei Vormittagsstunden Körpertraining schon einfacher. In der Mittagspause sollten wir eine kleine Sequenz „Verzweifeltes Ziehen und Schieben an einem beliebigen Gegenstand“ vorbereiten und danach den anderen vorführen. Sehr lustig. Eine stemmte ein Sofakissen durch ihr Wohnzimmer, ein anderer zerrte und schubste an einem dünnen Stahlring herum, das wirkte besonders verblüffend. Einer schob einen sehr wiederstrebenden lila Teddy durch die Luft und eine einen Hut. Und ich die Tupperdose, die so was ziemlich gut mit sich machen lässt. Und Anke gab Tipps zur Perfektionierung. „Halt, erst Schulter. Jetzt umgreifen. Tiefer stehen! Näher ran.“…
Und dann lernten wir noch Treppensteigen (wesentlich anstrengender als mit echter Treppe) und nachher noch mit der Hand einen Fixpunkt zu halten, während man mit dem Rest der Körpers andere Sachen macht. Also eine Hand z.B. auf eine imaginäre Küchenarbeitsfläche zu legen und dann von weit weg irgendwelche Dinge zu holen und danebenzustellen, ohne dass die Hand wackelt, weil ja dann sofort keiner mehr an die Küchenarbeitsplatte glaubt. Und wie man es machen muss, damit es wirklich so aussieht, als ob man mit der freien Hand etwas aus dem Kühlschrank holt (unbedingt auf den engen waagerechten Raum zwischen den Kühlschrankböden achten. Man kann da nichts schräg nach oben rausholen, das muss total waagerecht rausgepfriemelt werden) Ähnliches gilt bei einem Hängeschrank (Ellbogen so hoch, dass es glaubwürdig ist, dass man im obere Fach nach hinten durchgreifen kann. Auch da verrät jede Schräge sofort, dass der Schrankboden doch nicht existiert, und die Illusion ist dahin.)
Und eigentlich war die Konzentration da schon längst hinüber. So viel Stoff in so wenig Zeit!

Das Tolle ist, Anke hat das zum ersten Mal ausprobiert, virtuell zu unterrichten, aber alles so spitzenmäßig erklärt und im richtigen Tempo vorgemacht, obwohl sie uns nicht sehen konnte dabei, dass allen klar war: Es funktioniert hervorragend, Pantomimetechniken auf diese Weise zu unterrichten. Und die Chancen stehen gut, dass sie jetzt öfter mal Filme hochlädt zu verschiedenen Techniken.
Wer gucken will: http://www.anke-gerber.de.

Also: es hat sich gelohnt, etwas auszuprobieren, von dem ich sicher war, dass es Bullshit ist. Damit meine ich nicht die Pantomime, sondern die elektronische Vermittlung derselben. Und weil das so ist, habe ich mich gestern für einen Kurs in Naturgeschichts- und Botanikzeichnen bei http://www.edx.org eingeschrieben. Hab ich gejammert, dass es bei uns im Dorf keine Volkshochschule gibt? Jetzt gibts eine. Die haben so ziemlich alles von Aufnahmetechnik bis Geschichte der Schneiderei. Auf Englisch, aber immer mit mitlaufenden (englischen, spanischen oder chinesischen) Untertiteln, und zumindest die englischen helfen schon ziemlich.

Von Mücke und Thomas habe ich gehört, dass sie für die Karfreitags- und Ostergottesdienste, die ja nicht stattfinden können, heute alle Choräle aufgenommen haben (Mücke singt wie ein Engel und Thomas ist ein ebenso himmlischer Organist), damit sie auf der Website der Gemeinde allen zur Verfügung gestellt werden können, die zu Hause mitsingen wollen. Ich finde das wunderbar. Und das, obwohl Organisten sich in Ermangelung von Chorproben und Orgeldiensten theoretisch zurücklehnen könnten und sagen, sorry, ich KANN gerade nicht arbeiten.

Ich wünsche euch noch eine schöne Woche, wahlweise erholsam oder zumindest nicht zu stressig und melde mich demnächst mit Knotenanleitungen.

Liebe Grüße
Julia

1.4. Die Rückkehr der Ständegesellschaft

Hallo ihr Lieben,
Urte hat mir geschrieben, sie sei jetzt immer mit einer im letzten noch offenen Baumarkt erstandenen Leiste mit „Wir halten 1,50m Abstand!“ drauf am Spazierengehen – eine ebenso originelle wie effektive Maßnahme, finde ich. Wenn man nicht im Emsland wohnt. Und Volker und Doris riefen vorhin an, um sich der herzerwärmenden Schar der Hilfsangebote-aller-Art-Anbieter anzuschließen, nach Luisa, Anselm, Sabine, Uschi, Barbara und so (danke euch allen! Ich hoffe, es geht auch so, aber es ist gut, zu wissen, dass es euch gibt!) – und die Kombination dieser Dinge ließ folgende Betrachtung entstehen:

Die Rückkehr der Ständegesellschaft
Nachdem bei uns ja lange die Stände als abgeschafft galten und im Bewusstsein der Allgemeinheit nur noch Um-Stand, Miss-Stand und Spiel-Stand (und vielleicht noch der eine oder andere Gegen-Stand) eine Rolle spielten, wird jetzt allgemein eine Rückkehr der Ständegesellschaft beobachtet.
Angeführt vom Ab-Stand, der sich in diesen Tagen mit Macht wieder das Recht erkämpft, anerkannt und respektiert zu werden, in ungeahnter Größe, traben die Stände wieder allerorten ein. Der Still-Stand – wann haben wir ihn je so eindrucksvoll erleben können? Auch der Ehe-Stand bekommt ein ganz neues Gewicht, wird vom einen als viel glückbringender, vom anderen als viel peinigender beurteilt als zu Zeiten unbeschränkteren Ausgangs, wird ihm doch sogar noch vor dem Gebot des Ab-Stands Priorität eingeräumt (manch einer sagt gar, er bekäme Zu-Stände bei all dieser häuslichen Zweisamkeit), und nach anfänglichem Wider-Stand gegen die Einschränkungen der Zeit, siegt doch flächendeckend der An-Stand, ja blüht sogar der Bei-Stand in mannigfaltigen Formen in allen Ritzen und Ecken wieder auf. In Hilfsangeboten, die auf den Be-Stand einer Gesellschaft hoffen lassen, die sich auf Achtung und Freundlichkeit gründet.
Der befürchtete Auf-Stand hingegen blieb aus. Möglicherweise ein Zeichen, dass auch der Ver-Stand in seiner Sonderform Gesundermenschenver-Stand ebenfalls aus dem Winterschlaf erwacht.

(Zweifellos ist dieses naheliegende Wortspiel schon vor mir erfunden worden. Das ist ja bei vielen wirklich großen Ideen der Fall. 🙂

Hier ist noch ein spannender Artikel, den ich im Moment gern weiterleite:
https://www.tageskarte.io/zahlen/detail/gastbeitrag-matthias-horx-wie-wir-uns-wundern-werden-wenn-die-krise-vorbei-ist.html

Viele liebe Grüße, lasst euch nicht in den April schicken
Julia

31.3. Dorfleben

Hallo ihr Lieben,

von ein paar Seiten kam so was wie „Schade, dass keine neuen Reisemeisen mehr kommen…“ – je nun, ich könnte ja im Moment nur leise Meisen schreiben. Rundwanderungen mit leichten Variationen, die aber bezaubernd sind, mit Frühlingswald, den Asphalt durchbohrenden Maiglöckchentrieben und Picknicken an der Aa, wo man Nutrias und Rehe mit dem Fernglas schamlos beobachten kann.
Dann zwei Tage mit Schneegestöber und grauem Himmel, seit heute wieder Gartenbuddeln und im Schaukelsessel mit Blick auf den Fluss heißen Kakao trinken…

Ist bei euch auch so unfassbar klare Luft? Tagsüber ist der Himmel ungeahnt blau, und nachts sind viel mehr und leuchtendere Sterne zu sehen als sonst und nie gesehene Kraterlandschaften auf goldgelbem Halbmond. Das Fernglas ist natürlich auch dafür gut zu gebrauchen. Aber diese Durchsichtigkeit des Firmaments – ich frage mich, ob das echt schon von dem bisschen weniger Fliegen und Fahren kommen kann.

Ich glaube, man kann fast nirgends geeigneter wohnen für die derzeitige Situation als genau hier. Was bin ich froh, dass ich die Hütte nicht gekündigt habe. Gut, krank werden darf man hier nicht. Die hiesige Medizinerdichte und -qualifikation hat sich als bisher nicht sehr ergiebig erwiesen. Aber sonst… wenn man keinen treffen soll, ist das hier perfekt. Selbst die Hundebesitzer scheinen zu versuchen, möglichst wenig draußen unterwegs zu sein. Nur E-Bike-Senioren (allesamt paarweise unterwegs) trifft man, aber die sind schnell vorbei. Und so bin ich also auch hier auf ganz anständige Wanderpensen (was ist der korrekte Plural von Pensum? Pensa?) gekommen. Außerdem übe ich einen Haufen Klavier und mache so nutzlose Sachen wie Perlenketten auffädeln, nur zum Spaß. Und habe eine Menge schöner Knoten gezeichnet und auch ganz didaktische Filmchen davon gemacht, wie das geht. Bloß muss ich jetzt noch rauskriegen, wie ich die in diesen Blog gebastelt kriege. Irgendwann demnächst gibt es hier eine Ecke namens „Kreativgestapelt“, und da findet ihr dann Ideen zum Knotenzeichnen oder Kanonschreiben oder bekloppte Schreibspiele oder so. Soweit der Plan. Das hat sich ja bisher in diesem Frühling schon absolut bewährt, das Planen.

Gestern habe ich mit der Wiener Organisatorin des Pantomime-Kurses eine Test-Video-Konferenz gemacht. Und das hat geklappt! Mein Nachbar Otto, der ein alter Kapitän ist und genau so aussieht, wie ein alter Kapitän assehen muss, bloß mit kürzerem Bart, war so lieb, mir ganz spontan seinen W-Lan-Code rüberzubringen, dessen zugehöriges Netz tatsächlich bis an die eine Gartenecke bei mir reicht. Meistens. Und so werde ich dann am kommenden Wochenende nicht wie befürchtet mit schwächelndem Handy im Wald in Brandenburg, sondern mit aufgeladenem Laptop in der Einfahrt vorm Haus meine Nachbarschaft damit erfreuen, unsichtbare Scheunentore hin- und herzuschieben und auf nicht vorhandenen Fahrrädern zu fahren. Ich fand das ja erst die totale Schnapsidee, Bewegungsunterricht als Online-Kurs. Aber jetzt freu ich mich, das auszuprobieren. Ein Video mit Hausaufgaben haben wir schon geschickt bekommen.
Und womöglich mach ich dann doch noch was Ähnliches für meinen abgesagten Singkurs in Bayern, wenn das hinhaut.

Neue Ideen, wohin man guckt.
Das hiesige Bauernhof-Café hat jetzt ein Drive-In auf dem Hof. Man fährt zwischen die ehrwürdigen Backsteingebäude und lässt sich die telefonisch bestellte Bratkartoffelpfanne oder die Stachelbeerbaisertorte ins Auto reichen.
Der Supermarkt hat einen neuen Angestellten: den Hand-Desinfizierer am Eingang. Der zwingt alle Leute, sich einen Wagen zu holen, vergibt Einkaufswagen-Chips für die unvorbereiteten, die keinen Euro dafür haben, und säubert den Kunden wahlweise den Wagengriff (für die, die denken, sie hätten noch nichts, und sich auch nichts einfangen wollen) oder die Hände (für die, die fürchten, sie hätten schon was, und das nicht verteilen wollen) oder beides.
Unser Bio-Bauer verkauft seit neuestem neben Pastinaken und gelber Bete auch Solidaritäts-Klopapier zu Staffelpreisen. Jede Packung kostet mehr als die davor.
Die Gärtnerei, die eigentlich zu hat, gibt einem, falls man zufällig dann kommt, wenn gerade jemand seine Bestellung abholt, unauffällig so viele Primeln mit, wie man auf dem Fahrrad transportieren kann. Und alle Nachbarn spielen draußen mit ihren Kindern. Ich glaube, die Kinder hier in der Ecke werden später in ihren Memoiren von diesem Frühling als dem schönsten ihres Lebens schreiben. Wenn man sie vom Nachrichtengucken abhält.

Mein allerletzter noch übriger Auftritt, der vom 20.4. im Schwarzwald ist jetzt auch noch geplatzt, zumindest vorläufig. Wir gucken mal, ob wir vielleicht im Herbst einen Ersatztermin finden.
Und sämtliche in der Weltgeschichte rumgondelnden Pakete (außer dem Hamburger Konzertklamottenpaket und dem englischen Lehmbaupaket) sind, zum Teil nach mehrfacher Hin- und Rückreise, wieder hier angekommen, mit Computer, CDs, Stimmbildungskram und all dem Zeug, das ich SO schön strategisch auf den Weg gebracht hatte.

Jetzt wünsche ich euch allen, dass ihr gesund und glücklich bleibt und eher Einkehr als Hüttenkoller erlebt – falls ihr nicht sowieso zu denen gehört, die systemrelevant sind (hurra, endlich sind das mal nicht nur Banken, sondern wirklich wichtige Leute) und den Laden am Laufen haltet durch noch viel mehr Arbeit als sowieso schon.

Ich grüße euch von Ferne und umarme euch mit 200 km Sicherheitsabstand!
Julia

19.3. Warburg – Salzbergen – Hütte

Hallo ihr Lieben,

niemand hat ein Zelt übrig, und das schöne Wetter scheint wieder vorbei zu sein. Ich habe zwar gestern noch Bindfaden gekauft, um aus meinem Regencape mit ein paar Stöcken ein Regendach zu basteln, aber mich kratzt es jetzt schon im Hals, und der Gedanke, da bei den angekündigten feuchten 3*C drunter zu schlafen, überzeugt mich nicht.

Und einerseits ist es mir jammervoll, dieses Wandern abzubrechen und mir graust davor, zu Hause zu sitzen in verordneter Kontaktarmut, trotz einiger guter Ideen, was ich da machen könnte… Ja, die sind das Andererseits, die Ideen.

Das mit dem Kanonkomponier-Online-Kurs war zum Beispiel kein Witz. Knotenzeichnen per Video zu erklären, könnte auch Spaß machen. Und mal Spargel zu stechen, könnte gut für die Lebenserfahrung sein. Und außerdem ist die Hütte ja gerade so schön aufgeräumt und entrümpelt… UND hat eine Badewanne.

Also, ich erkläre das Projekt für zeitweilig gescheitert, suche aber schon nach Möglichkeiten, es wieder aufzunehmen.

Der Mann der Pensionsbesitzerin meinte, wieso, wenn ich drüber schriebe, sei das doch journalistische Tätigkeit und klar beruflich. So gesehen…. Und, Saskia…. du hast doch da so‘ Zelt rumfliegen…. (Meins ist ja in England für den Earthbag-Building-Kurs im Juni, der hoffentlich wieder stattfinden darf.)

A propos Kurs: Der Pantomimekurs soll tatsächlich als Videokonferenz stattfinden. Man braucht bloß eine stabile Breitband-Internetverbindung. Diese Österreicher! Was denken die denn, wie man im Emsland auf dem Dorf lebt? Ich könnte natürlich nach Lingen fahren und mich in die überdachte Einkaufspassage stellen, da ist offenes W-LAN. Aber das ist natürlich völlig kontraproduktiv, man denke an die Menschenmassen, die ich anziehe, wenn ich, auf mein Handy starrend, Moonwalk übe oder unsichtbare Hindernisse wegschiebe. Oder bei meinem Nachbarn, der mich sein W-LAN mitbenutzen lässt, im Carport, da geht es auch. Wenn er nicht gerade am Motorrad schrauben muss. Stundenlang kann ich da vor laufender Kamera an fliegenden Regenschirmen hängen oder so, und versehentlich Werkzeuge von den Wänden schlagen, zur Freude der anderen in der Siedlung.

Na, ich halte euch auf dem Laufenden, wenn es da was zu berichten gibt.

Ich habe eine Zugverbindung mit nur einmal Umsteigen bis Salzbergen gefunden (ziemlich leer) und bin von da aus nach Hause gelaufen – mit schwerem Rucksack dank der nötigsten Einkäufe. Ich hatte ja sorgfältig alles aufgegessen vor der Abreise. So hatte ich doch immerhin noch vier Stunden Spaziergang. Ganz ohne eine Karte zu brauchen, den Weg kenne ich vom Fahrradfahren. Und die Landschaft ist eigentlich auch hier ziemlich schön. Jede Menge Magnolienbäume blühen. Und die Birken werden grün.

Hier sind genau so viele oder so wenig Leute und Autos unterwegs wie normalerweise. Unterschied zu sonst: Nachbarn, die einem sonst nur zunicken, fragen jetzt, wie es geht und ob alle gesund sind.

Und es war tatsächlich ein Genuss, in die so schön aufgeräumte Hütte zu kommen.

Ich wünsche euch ein glückliches, erholsames und gesundes Wochenende! Mäßiges Wetter wird helfen, die Sehnsucht nach Grillpartys im erträglichen Bereich zu halten.

Viele liebe Grüße

Julia

17.3. Bad Driburg – Warburg, 18.3. rund um Warburg

17.3.2020 Bad Driburg – Willebadessen – Warburg

Hallo ihr Lieben,

Ich will es noch weiter versuchen, auch wenn Pensionen nur noch beruflich Reisende aufnehmen dürfen. Gestern habe ich bei Lidl eine leichte Notfall-Luftmatratze gesehen, die hole ich mir jetzt. Hier sind so viele Schutzhütten im Wald, da wird man ja wohl in irgendeiner schlafen können. Immerhin ist Frühling.
Problem: Da gibts keinen Strom. Und ich kann nicht wie damals in Frankreich immer im Café oder in unbeaufsichtigten Dorfkirchen das Handy auladen. Das heißt, ich werde in kürzester Zeit keine Landkarte mehr haben. Könnte natürlich einfach nach Gefühl IRGENDWOhin laufen, jetzt ist es ja egal. Aber zumindest bis Korbach will ich noch kommen, also brauche ich eine analoge Wanderkarte.
In der Bad Driburger Fußgängerzone ist eine Buchhandlung, die zumindest eine Karte hat, die bis Warburg reicht.
Und der Pensionsbesitzer meinte heute morgen: „Wo wollen Sie hin? Willebadessen? Da rauf bis zur Iburg (verwirrenderweise habe ich nicht nur erst in Bad Iburg und nun in Bad Driburg geschlafen, sondern die Burgruine über Bad Driburg heißt auch noch Iburg. Da soll sich einer auskennen) und dann weiter Richtung „Schöne Aussicht“ und dann immer oben auf dem Kamm lang.“

Von der Schönheit her sicher ein guter Tipp. Allerdings 7 km länger als die Route, die die komoot-App mir vorgeschagen hatte. Das merkte ich erst, als ich schon zwei Kilometer steil hoch zur Burg gestiegen war und dort einen Wegweiser „Willebadessen 21 km“ fand.
Egal, das Wetter war schön, der Weg gut begehhbar, wie üblich kaum jemand unerwegs außer weiteren Holzfällern.
Irgendwann musste ich ein Stück auf einer breiten Landstraße langlaufen, und in der ganzen Zeit fuhr da boß ein Auto lang. Es war wie in Schweden. Wald und leere Straßen.
Auf einem mächtigen Fichtenstamm gabs Picknick in der Sonne. Dann kam ich durch Neuenheerse, ein Dorf mit Wasserschloss und wunderbarer alter Kirche (natürlich zu). Da habe ich die letzte Bäckerei gefunden, die einen noch auf die Café-Toilette gelassen hat zum Händewaschen. Ab da waren überall Schilder, dass die Toiletten nicht mehr geöffnet seien, was sich beim Wandern als problemtisch rausstellen kann. Jedenfalls habe ich die Picknickvorräte aufgestockt, den bildschönen Ort bewundert und bin von dort aus (durch ein Versehen, aber ein glückliches) im Tal auf sonnigen Wiesen an der Nethe entlang weitergewandert. Die schlängelt sich und plätschert unter Erlen dahin, dass es eine Freude ist. Auf einer großen Rasenfläche am Stausee waren neben viel leerem Platz ein Pärchen und zwei kleinere Gruppen Jugendlicher zu finden, die um die Tische herum saßen und Musik hörten. Ansonsten nur ein paar einzelne Mountainbiker auf den Wegen.
Kurz vor Willebadessen konnte ich nicht länger aufschieben, mich zu entscheiden, wo und wie ich nun versuchen wollte, an ein Bett zu kommen. Im Internet hatte ich morgens noch drei Möglichkeiten dort gefunden, ab 40,-€, und guckte jetzt noch mal nach. Nur noch das Hotel (gediegenen deutschen Landhotelnamen einsetzen) war aufgeführt, für 60,- € Superschnäppchenpreis. Autsch, dachte ich, dann jetzt also Wald und Luftmatratze. Ich traf eine nordicwalkende ältere Dame an einer Abzweigung, die mir hoch zum Wald mit seinen ab und zu am Weg wartenden Schutzhütten zu führen schien, und sie bestätigte das. Ich marschierte los. Und sah wie es dunkler wurde. Und sah den kühlen schwarzen Wald da oben. Und hatte sehr wenig Lust, fröstelnd mit zusammengefallenen Schlafsackdaunen da unter einem Dach zu liegen und 12 Stunden lang bei jedem Rascheln aufzuschrecken.
In Warburg 20 km weiter war eine mit Höchstpunktzahl dotierte Pension für 40,- € aufgeführt. Brauchbar für den portugiesischen Trick: Hinfahren, Gepäck dort lassen, morgen wieder nach Willebadessen fahren, ohne Rucksack wandern und nochmal da schlafen. Nachteil: Zwei Zugfahrten. Aber das würde schon gehen.
Ich rief da also an. Natürlich kam die Frage, ob ich denn beruflich oder touristisch unterwegs sei. „Das ist schwierig zu beantworten“, sagte ich, und erklärte die Lage, dass im Moment noch die Möglichkeit offen sei, ob ich in Korbach nicht wenigstens ein paar Einzelstunden an interessierte Chorsängerinnen erteilen könnte, so dass sie etwas von mir und ich etwas von ihnen und dem Honorar hätte. Dass ich aber andererseits total nach Touristin aussähe wegen des Projekts „Zu Fuß zum Job“.
„Wie Sie aussehen, ist mir ganz egal, wenn es beruflich ist“, sagte die sehr nette Besitzerin, warnte mich nur vor, dass die Züge nicht mehr so regelmäßig führen.
Aber 90 min. später sollte es einen geben.
Ich war froh und wandte mich vom Wald ab und dem Ort zu.
Ich musste mal. Die Landschaft war so offen, dass man schlecht in irgendein Gebüsch konnnte, und plötzlich war ich in Willebadesssen. Und fand diverse Cafés, die alle geschlossen waren. Ein einsamer Draußenraucher sage, die Polizei habe eine öffentliche Toilette, und beschrieb mir den Weg. Ich machte eine große Runde durchs ganze Dorf, bis ich sie fand. Geöffnet bis 17:00 Uhr. Es war 18:00 Uhr.
Am Bahnhof würde es sicher eine geben. Ich lief los, nach Gefühl bergab. Züge fahren unten. Und es war ja noch massig Zeit bis zu meinem 19:04-Uhr-Zug. Drei Kinder auf Rollern kamen mir entgegen, die fragte ich nach dem Bahnhof. Sie bekamen große Augen. „Der ist ganz, ganz, ganz da oben!“, sagte der größte der drei und machte eine ausladende Armbewegung an mir vorbei in die Richtung, aus der ich gekommen war. „Na, dann bin ich ja froh, dass ich euch gefragt habe“, sagte ich und drehte um. Es war weit. Ungefähr drei km bergauf. An einer Straße ohne Gebüsche und mit Häusern samt Fenstern. Ich wanderte unter Hochdruck.
Auf halber Strecke sagte das Handy „Ping“, und ich fand eine SMS meines Cousins vor, ihm sei plötzlich eingefallen, dass mich die ganzen Kultur-Absagen bestimmt schwer träfen, und ob er mir finanziell beistehen solle. Ich möge die Anfrage nicht übelnehmen. Übelnehmen? Ich war total gerührt über diese Fürsorglichkeit. So was Liebes! Aber noch steht das nicht an. Nachdem meine Altersvorsorgeaktiendepots im letzten Jahr dreimal hintereinander einfach so umgeschichtet worden waren („Übrigens, den Fonds gibts jetzt nicht mehr, der heißt jetzt so, ist aber auch ganz prima und hat immer noch nicht SOOO viele Waffenfirmen und Kinderarbeit, das wollten Sie doch so, oder? Merkwürdiger Geschmack. Ach ja, und Sie bekommen einen neuen Sachbearbeiter, nicht mehr den Künstler, den Sie sich mal ausgesucht hatten, ist o.k., oder? Und übrigens, die Bank ist jetzt aufgekauft worden von einer anderen, die auch gaaaanz toll ist und nur Ihr Bestes will, in Ordnung? Sonst kündigen Sie einfach.) – da hab ich einfach gekündigt. Das war vor ein paar Monaten. Ich bin denen inzwischen wahnsinnig dankbar, dass sie mich auf diese Weise vergrault haben, bevor alles nur noch die Hälfte wert gewesen wäre. Und deshalb, weil das Schicksal mir auf diese Weise quasi einen Haufen Geld geschenkt hat, werde ich zunächst mal gelassen von dem Haufen essen. Als Rente wäre er eh lächerlich. Als Überbrückung ist er sehr beruhigend.
Nichtsdestotrotz eilte ich ja immer noch bergan, dem Bahnhofe zu. Der sich dann als einsamer Betonbahnsteig mit nix außer Kameraüberwachung herausstellte.
Immerhin, da war so eine Art Gebüsch in einer Richtung, in die keine Kamera zu zeigen schien… aber weiß man es?

Ich fuhr dann 12 Minuten Zug. Richtig angenehm war es nicht. Geht es euch auch so, dass man sich plötzlich immer und ewig dreckig und klebrig fühlt, vor allem an den Händen? Haltestangen und Türknöpfe, die auch sonst schon von tausenden Händen betatscht und mit Milliarden Mikroben besiedelt waren, fühlen sich pötzlich so … unhygienisch an. Dabei war der Zug recht leer. Die Spaßvögel, die extra nah aufrücken und dann pöbeln, scheinen nach allem, was ich mitbekomme, mehr in den größeren Ortschaften zu wohnen.
In Warburg war es stockdunkel, und die Pension war nicht so schnell zu finden – aber enorm schön. Und wie alle akut vom Bankrott bedroht, wenn das so weitergeht.
So früh war ich auf der ganzen Reise noch nicht im Bett.

18.3.2020 – um Warburg herum

Der Mann der Pensionswirtin, der als Redakteur auch an Wanderbüchern mitarbeitet, hat mir schöne Wandertouren rund um Warburg empfohlen, und kurzentschlossen hab ich mich nicht noch mal in den Zug gesetzt. Was soll dieser Vollständigkeitswahn, wenn man auch einfach so wandern kann? Die Pensionswirtin sagte, ich müsse mir aber UNBEDINGT auch noch Warburg angucken, das sei so schön und es sei eh nichts los in der Stadt – und sie hatte mit beidem Recht. Eindrucksvolle Fachwerkbauten, erstaunlich groß (eins hatte fünf Stockwerke und zehn Fenster im ersten Stock allein zur Straße hin. Und Erker und Giebelchen und schöne Türen) und zum Teil überbordend verziert. Unten am Berg die Altstadt und oben die sogenannte Neustadt, die auch aus Fachwerkhäusern besteht. Und aus alten Türmen und Stadtmauern und schönem Ausblick übers Diemeltal – ich kannte den Ort nur als Umsteigebahnhof, und weil auch der wieder etwas weiter weg vom Ortskern liegt, hab ich das schönste verpasst.
Während ich vorm Amtsgericht in der Sonne saß, mit Blick über die Landschaft, hielt ein Lastwagen neben mir, und eine gigantische Lieferung Toilettenpapier traf ein. Eine große Palette, auf der die Pakete gut zwei Meter hoch aufgetürmt waren.

Ich schmökerte mich derweil durch das Buch „Ferien vom Ich“, einen Roman von 1915. Die Handlung ist ein bisschen verworren. Die Grundidee ist, dass ein Arzt, der sieht, wie gestresst alle um ihn rum sind, eine Art Kur-Anlage in Form entzückender Häuschen und Höfe auf schönem Berggrundstück baut, in der man, egal was man sonst ist, macht oder hat, unter falschem Namen absteigt, Privatklamotten, Uhr und Geld am Eingang abgibt und so in schöner Umgebung handfesten Arbeiten auf Bauerhöfen o.ä. zugeteilt wird. Zeitungen dürfen nur selten und auf Anfrage gelesen werden. Keine Frage, dass das gegen viele Zivilisationskrankheiten hilft.
Das Erstaunlichste fand ich, dass so was offenbar schon vor hundert Jahren für nötig gehalten wurde.
Ich bin dann an der Diemel entlang durch malerisches Grün und Wolken von Veilchenduft gewandert zu einem Kalkmagerrasen-Gebiet mit (jetzt schon) Tagpfauenaugen und Zitronenfaltern. Und abends habe ich mal geguckt, ob ich ein Zelt finde für die nächsten Nächte. An die Korbacher und Bad Arolsener habe ich gemailt, ob mir jemand Zelt oder ein Solar-Ladegerät leihen kann.
Abends erfahre ich, dass auch die Spar-Version mit nur Einzelstunden in Korbach im Moment nicht machbar ist. Ich hatte mir das schon gedacht.
Frage ist ja, wieso nicht einfach alle, die keine Risikogruppe sind, sich schlicht anstecken lassen, ein, zwei Wochen ausfallen und nachher immun sind. Dann ist die Ansteckungskette auch unterbrochen. Und es könnte sogar schneller gehen. Man müsste eben alle Alten und Vorerkrankten keimfrei mit allem versorgen, was sie brauchen.
Aber ich schweife ab. Und bestimmt gibt’s da Gegenargumente.
Morgen früh entscheide ich – je nach Zeltlage – in welche Richtung es weiter geht.
Liebe Grüße und gute Nacht!
Julia

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