Hallo ihr Lieben,
ich hatte euch ja gesagt, ich würde mitteilen, wie es ist, bei gemischtem Wetter einen Bewegungslehrgang mit Gruppentraining als Videokonferenz im Garten meiner telefonkabelfreien Hütte zu machen.
Kurz: schön wars. Und erstaunlich anstrengend. Was man selbst auf und mit einem IKEA-Klappstuhl der windigsten Sorte für intensive Kräftigungs- und Dehnungsübungen machen kann, ist verblüffend. Ich habe Muskelkater in vielen Ecken der Geographie, die bisher eher weiße Flecken auf der Landstraße waren. Und das Bewegungsgefühl hat sich sogar durch die paar Tage schon gesteigert.
Donnerstag Abend haben wir (ich mit Wärmflasche, Steppweste, Daunenjacke und Mütze) erstmal gemeinsam getestet, was diese Webex-Videokonferenz taugt, wenn da 20 Computer zwischen Emsland, Wien und Berlin dranhängen und alle, die dransitzen, versuchen, zu reden und gesehen zu werden.
Das ging schon mal nicht, stellte sich raus.
Letztendlich wurden uns dann allen die Mikrophone abgeschaltet – was für einen Pantomimekurs eigentlich nur folgerichtig ist – und wir konnten je nach Bandbreite der Verbindung entscheiden, ob wir unsere Kamera an- oder abschalten wollten. Und das erwies sich als enorm befreiend. Wann kann man sich schon mal als Neuanfängerin in so einen Kurs stellen, in dem sicheren Wissen, dass keiner es mitkriegt, wenn man sich bescheuert anstellt?
Außer den Nachbarn, klar. Aber die sind ja einige Merkwürdigkeiten gewohnt und warfen beim Spazierengehen meist nur einen beiläufigen Blick auf mich, wie ich da drei Tage lang Tupperdosen durch die Gegend schob und auf nicht vorhandene Herrenräder stieg.
Die Testrunde Donnerstag Abend war ziemlich flott vorbei, was gut war, weil es regnete, und ich konnte meines Amtes walten und Saskia im Trockenen und Warmen ein paar erste Gitarrenakkorde beibringen. Endlich mal wieder berufstätig sein, wenn auch in einem Beruf, von dem ich nicht viel mehr Ahnung habe als vom Backen. Nee, stimmt nicht. Wir haben auch einen Haufen Musiktheorie gemacht, wo ich ja immer gleich sehr missionarisch werde. Außerdem hat sie meine Methode, das Knotenzeichnen zu erklären, getestet, und es stellte sich raus, dass sie funktioniert. Saskia befand es für eine äußerst entspannede Tätigkeit, was mir ja selbst auch immer so geht. Das also demnächst auf dieser Welle.
Freitag haben wir noch mehr Gitarre gespielt und Knoten gezeichnet und festgestellt, dass meine Küche sich nur bedingt dafür eignet, zuverlässig zwei Meter Abstand zu jemandem zu halten, und dann war es auch schon Zeit für die Pantomime-Einheit. Zunächst mal zwei Stunden brutalsten Körpertrainings (für jemanden, der sonst nur wandert und zum Einkaufen radelt), bei denen ich mich zunächst immer um Saskias Auto (also Claudias Auto, aber Saskia durfte es benutzen, um herzukommen) rumquetschte, denn dahinter war Platz, aber kein Empfang, und davor und daneben war es umgekehrt. Aber auch da war der Empfang lausig, man sah und hörte oft wenig, und es war eiskalt. Ich war noch nicht überzeugt von der ganzen Aktion. In der Pause hat Saskia dann umgeparkt, und wir stiegen von den Trockenübungen auf die lustigen Sachen um, imaginäre Widerstände ziehen und schieben und werfen und so, und meine Laune stieg. Wie ziehe ich an einer Hundeleine, wenn ein Dackel am anderen Ende ist, wie, wenn es ein Bernhardiner ist? Oder eine Mücke? Im Grunde genau die Dinge, die ich im Stimmbildungskurs auch immer mache, aber jetzt noch viel genauer und in fürs Publikum leicht zu entschlüsselnde Einzelteile zerlegt. Beim Ziehen zuerst im Becken anfangen, dann die Brustwirbelsäule einsetzen, dann erst die Schultern und ganz zum Schluss die Arme. Zieht der Hund nun seinerseits, geht es umgekehrt: erst werden die Arme langgezogen, dann folgen die Schultern, dann der Oberkörper, dann muss ich womöglich hinterherstolpern.
Wenn ich das nicht beachte und etwa mit dem Oberkörper anfange, sieht es schon nicht mehr wie Gezogenwerden aus, sondern eher wie Schieben.
Und gestern, wo der Kurs schon morgens losging, war das Wetter so schön, dass die Jacken und Westen Stück für Stück zu Boden sanken, während wir ausprobierten, wie man pantomimisch Bälle, die nicht da sind, zwischen den Händen so bewegt, dass die Zuscheuer sie sehen, wie das Publikum unterscheiden kann, ob wir gerade einen Apfel, eine Knoblauchzehe, ein Treppengeländer oder eine Schachtel gegriffen haben, allein an der Position und Spannung der Hand, und wie man Fahrradfahren vortäuscht. Leider ist letzteres ohne Fahrrad viel anstrengender und schwieriger als mit einem solchen, weil man permanent freihändig auf einem Fußballen von so hoch wie möglich bis Bodenberührung mit der Ferse wippt, ganz langsam und gleichmäßig, während das andere Bein in der Luft Kreise tritt und man sich an nichts festhalten kann als an einem Lenker aus besonders klarer Luft. Das verträgt noch ein paar Übungseinheiten.
Mit Hilfe zweier Konservendosen haben wir dann noch die Flugbewegungen großer Greifvögel geübt, das wäre hier entschieden zu kompliziert zu erklären, funktionierte aber (wenn man den anschließenden Muskelkater toleriert) gut.
Mittags in der Kurspause haben Saskia und ich in der Sonne am Fluss ihr Repertoire an Gitarrenakkorden auf sieben oder so erweitert, womit sie in drei Tagen so ziemlich alle gelernt hat, die ich auch kann, und festgestellt, dass es klappt, nach Gehör zu entscheiden, wann man wechseln muss. Das macht diese Sportart ja viel einfacher. Dann musste sie leider schon wieder los, denn Claudia konnte das Auto nicht länger entbehren.
Und ich lernte, verzweifelt an einer in der Luft feststehenden Tupperdose zu zerren und zu schieben, an ihr zu baumeln, wenn sie wegfliegt und sie mit aller Kraft zu Boden zu drücken.
Es hat etwas absolut Großartiges, so viel Aufmerksamkeit, Übung und Konzentration für etwas aufzuwenden, das so wenig konkreten Alltagsnutzen hat.
Heute, am dritten Tag waren die zwei Vormittagsstunden Körpertraining schon einfacher. In der Mittagspause sollten wir eine kleine Sequenz „Verzweifeltes Ziehen und Schieben an einem beliebigen Gegenstand“ vorbereiten und danach den anderen vorführen. Sehr lustig. Eine stemmte ein Sofakissen durch ihr Wohnzimmer, ein anderer zerrte und schubste an einem dünnen Stahlring herum, das wirkte besonders verblüffend. Einer schob einen sehr wiederstrebenden lila Teddy durch die Luft und eine einen Hut. Und ich die Tupperdose, die so was ziemlich gut mit sich machen lässt. Und Anke gab Tipps zur Perfektionierung. „Halt, erst Schulter. Jetzt umgreifen. Tiefer stehen! Näher ran.“…
Und dann lernten wir noch Treppensteigen (wesentlich anstrengender als mit echter Treppe) und nachher noch mit der Hand einen Fixpunkt zu halten, während man mit dem Rest der Körpers andere Sachen macht. Also eine Hand z.B. auf eine imaginäre Küchenarbeitsfläche zu legen und dann von weit weg irgendwelche Dinge zu holen und danebenzustellen, ohne dass die Hand wackelt, weil ja dann sofort keiner mehr an die Küchenarbeitsplatte glaubt. Und wie man es machen muss, damit es wirklich so aussieht, als ob man mit der freien Hand etwas aus dem Kühlschrank holt (unbedingt auf den engen waagerechten Raum zwischen den Kühlschrankböden achten. Man kann da nichts schräg nach oben rausholen, das muss total waagerecht rausgepfriemelt werden) Ähnliches gilt bei einem Hängeschrank (Ellbogen so hoch, dass es glaubwürdig ist, dass man im obere Fach nach hinten durchgreifen kann. Auch da verrät jede Schräge sofort, dass der Schrankboden doch nicht existiert, und die Illusion ist dahin.)
Und eigentlich war die Konzentration da schon längst hinüber. So viel Stoff in so wenig Zeit!
Das Tolle ist, Anke hat das zum ersten Mal ausprobiert, virtuell zu unterrichten, aber alles so spitzenmäßig erklärt und im richtigen Tempo vorgemacht, obwohl sie uns nicht sehen konnte dabei, dass allen klar war: Es funktioniert hervorragend, Pantomimetechniken auf diese Weise zu unterrichten. Und die Chancen stehen gut, dass sie jetzt öfter mal Filme hochlädt zu verschiedenen Techniken.
Wer gucken will: http://www.anke-gerber.de.
Also: es hat sich gelohnt, etwas auszuprobieren, von dem ich sicher war, dass es Bullshit ist. Damit meine ich nicht die Pantomime, sondern die elektronische Vermittlung derselben. Und weil das so ist, habe ich mich gestern für einen Kurs in Naturgeschichts- und Botanikzeichnen bei http://www.edx.org eingeschrieben. Hab ich gejammert, dass es bei uns im Dorf keine Volkshochschule gibt? Jetzt gibts eine. Die haben so ziemlich alles von Aufnahmetechnik bis Geschichte der Schneiderei. Auf Englisch, aber immer mit mitlaufenden (englischen, spanischen oder chinesischen) Untertiteln, und zumindest die englischen helfen schon ziemlich.
Von Mücke und Thomas habe ich gehört, dass sie für die Karfreitags- und Ostergottesdienste, die ja nicht stattfinden können, heute alle Choräle aufgenommen haben (Mücke singt wie ein Engel und Thomas ist ein ebenso himmlischer Organist), damit sie auf der Website der Gemeinde allen zur Verfügung gestellt werden können, die zu Hause mitsingen wollen. Ich finde das wunderbar. Und das, obwohl Organisten sich in Ermangelung von Chorproben und Orgeldiensten theoretisch zurücklehnen könnten und sagen, sorry, ich KANN gerade nicht arbeiten.
Ich wünsche euch noch eine schöne Woche, wahlweise erholsam oder zumindest nicht zu stressig und melde mich demnächst mit Knotenanleitungen.
Liebe Grüße
Julia