
12.9.
Hallo ihr Lieben,
nachdem jetzt auch noch quasi die letzten Events für dieses Jahr (zwei weitere Konzerte, einmal Terzettsingen im Gottesdienst, ein ausführliches Chorwochenende und ein Chorprobentag) abgesagt worden sind und nur noch fünf Tage Schreibseminar (sehr viel Spaß, aber leider zu VHS-Honorar) und ein Silvestergottesdienst (noch mit Fragezeichen) übrig geblieben sind im Kalender, verbrachte ich erstmal die vermutlich depressivste Woche meines Lebens und fing an, mich nach alternativen Berufen umzusehen. Aus Familie und Freundeskreis kamen hilfreiche Vorschläge, von Feng-Shui-Beraterin über Sozialarbeit bis Waldführerin. Dumm nur, dass ich so sehr daran hänge, mit und für Menschen singen zu wollen. Gut, beim Wohnungen-Dekorieren könnte ich singen und die BesitzerInnen zwingen, mitzumachen, als Strietwörkerin böte es sich sicher auch an, und auch Waldführungen könnte man gemeinsam singend durchführen. Überhaupt ist ja Draußen-Singen so viel legaler.
Da ich da im Moment noch keine Entscheidung treffen wollte, mir aber auch das Zuhausesitzen überhaupt gar nicht mehr bekam (trotz des neuen Klaviers), habe ich mich zunächst für ein achtwöchiges Online-Berufs-Orientierungs-Seminar angemeldet und dann in Venedig angefragt, wer am Istituto Venezia diesen Monat Livello 5 unterrichtet. Weil (langjährige MitleserInnen werden sich erinnern) die Kurse da entweder ganz großartig oder entsetzlich quälend sind, je nachdem, wer vorne steht. Diesen Monat: Alberto Bettin, didaktisches Genie, Jazzpianist, Singer-Songwriter. Es lohnt sich, ihn zu googeln und sich seine Songs anzuhören.
Und da habe ich mich kurzerhand angemeldet. Montag gehts los. Ich habe das Istituto gebeten, mir diesmal eine andere Gastgeberin zu vermitteln und vorsichtig angemerkt, sie dürfe gern freundlich sein. Und seit gestern Abend weiß ich, dass es klappt, und dass Laura mir sympathisch ist und die Wohnung gemütlich aussieht.
Wenn man die venezianischen Fußböden der Marke „Schotter in Aspik“ mag.
19-jährige Tochter und Katze wohnen dort ebenfalls, und ich freu mich drauf.
Ich verpasse jetzt leider den 75. Geburtstag meines Nachbarn Otto (des Schiffers) und auch das gemeinschaftliche Herz-Begrünen, das dem vorausgeht.
Die StädterInnen unter euch kennen das vielleicht nicht, aber bei uns wird immer, wenn es was zu feiern gibt, ein 1,50m hohes stehendes Herz aus OSB-Faserplatte mit Tannen- oder Lebensbaumgrün betackert – irgendjemand opfert immer ein Stück Hecke – und dann mit selbstgemachten Krepppapier- oder Serviettenblumen in jeweils genau durchdachten Farbkombinationen umkränzt. Das können die Farben des Lieblings-Fußballvereins sein oder die zum Berufsstand passenden. In die Mitte kommt dann das Alter als Lichterkettenzahl, damit man es auch nachts vor Augen hat. Otto bekommt also ein maritimes Design, die Zahl aus Schiffstau gebogen und mit LEDs umtüllt. Das wird dann am Geburtstagsmorgen unter großer Heimlichtuerei in den Garten gebracht und aufgestellt. Und es ist einfach SO schön, eins zu kriegen. Und auch, sie gemeinsam zu basteln und sich schon drauf zu freuen, wie der oder die Beschenkte dann gucken wird.
Und morgen sitzen dann alle bei Otto und Gisela im Garten, futtern und konsumieren gehaltvolle Getränke. Und ich nicht, denn ich sitze im Zug nach Venedig. Ich hätte gern beides gehabt.
Immerhin habe ich in München mit meiner Pianistin Annette alles Mögliche nur zum Spaß geprobt (und dann unauffällig probiert, es Haus Buchenried, die uns im Sommer für ein Konzertchen angefragt hatten, stattdessen als Oktoberkonzertchen schmackhaft zu machen) und meine Freundin Ingrid endlich mal wieder gesehen.
Ich nehme mal an, dass ich euch für den Rest des Monats immer mal wieder berichte, wie es sich gerade in Venedig so lebt.
Massimo, „mein“ Chorleiter, hat schon geschrieben, dass er und Stefania sich freuen, mich zu sehen, und auch, wenn sie dort genausowenig proben können wie die Chöre bei uns, könnten wir uns doch zum Quartettsingen treffen. Toll!
Nachteil: Stefania ist richtiger Alt, das heißt, ich werde mich durch den Sopran winseln müssen….
13.9., aus dem Zug:
Hallo ihr Lieben,
dicker Nebel verwandelt das bayrische Voralpenland in eine Theaterkulisse nach hinten blasser werdender Bergsilhouetten mit einem sich mühenden Sonnenpfennig darüber. Ab und zu weht eine Wolke zur Seite und an Scherenschnitte erinnernde Zweige sausen am Fenster vorbei.
Dünner und dünner wird der Schleier, steile, saftige Wiesen stapeln sich in immer kühneren Winkeln. Häuser mit laubgesägten Balkonverkleidungen unter Lasten von Geranien.
In Innsbruck steigt eine junge Frau zu, Tina, und lüpft die Maske, um sich vorzustellen. Ich enttüdele mich von Omas Seidenschal und sage: „So sehe ich aus“. Wir lassen beide die Masken unten, schließlich haben wir das Sechserabteil für uns und fühlen uns gleich wie aus einem Haushalt. Wie wohltuend, mal wieder mit jemandem einfach so ins Gespräch zu kommen. Das Mienenspiel zu sehen, zu fühlen, für was sie sich begeistert und für was nicht.
Sie ist unterwegs zur ersten Bergwanderung ihres Lebens, eine spontane Entscheidung, und weiß jetzt nicht, ob das nicht Wahnsinn war und sie zwischen hypertrainierten alten Bergfexen verängstigt über zu schwierige Kletterpfade wanken wird. Wir einigen uns darauf, dass zu geführten Bergtouren mit Führer vermutlich nicht die ganz schlimmen Reinhold Messmers erscheinen. Ich wünsche ihr, dass es ganz traumhaft wird.
Offenbar muss man auf dem Matratzenlager von Berghütten nicht unbedingt maskiert sein, ebensowenig wie im Liegewagenabteil. Ich hatte mich das schon gefragt.
Der Schaffner von trenitalia bringt sofort nach der österreichisch-italienischen Grenze für jede ein eingepacktes Desinfektionstüchlein vorbei, vermutlich, um das Einschleppen von Krankheiten zu verhindern. Es hilft, wie hinten draufsteht, gegen Keime. Nicht gegen Viren. Es wird also auf den Placebo-Effekt gesetzt. Das Tuch hilft aber ganz sicher bei der Zucht erstklassiger multiresistenter Mikroben, das ist ja auch schon ein schönes Ergebnis.
Als Tina weg ist, schlafe ich ein und verpasse eine Menge erstklassigen Bergpanoramas. Es wird immer sonniger draußen. Die Häuser wandeln sich zu zunehmend abgeschabten Beton-Legebatterien mit schwarzen Regenwasserstreifen an der Fassade und Klimaanlagenkasten zur Bahn hin.
Eine Italienerin steigt zu, mit der ich nur wenige Worte wechsle. Ich kann ja nicht sehen, wie sie aussieht. Sie häkelt schweigend. Irgendwo habe ich gelesen, dass viele Asiatinnen die Maske nicht deshalb schon seit Langem aufgesetzt haben, weil sie Keime fürchten, sondern um sich Privatheit zu verschaffen und unerwünschte Annährerungen zu entmutigen. Ich glaube, das klappt ganz gut.
In Verona steigt sie wieder aus samt ihrem Häkelzeug in rosa und türkis, und ich bleibe allein zurück. Wenn Venedig so leer ist wie dieser Zug, werde ich Dinge sehen, die ich sonst nie sehen konnte, weil immer jemand davor stand.
Ihr merkt schon, dass es mir immer schwerer fällt, mich zu maskieren und in Masken zu gucken.
Wir schauen in verdeckte Gesichter, die wir nur schwer entschlüsseln können. Wer gern möchte, kann durch besonders deutliches Lächeln oder ein paar warme Worte die verlorengegangene Verbindung wieder herstellen. Wo das nicht passiert, bleibt sie verloren.
Exkurs:
Ich hatte in den letzten Tagen viel Gelegenheit, mir alle möglichen Pro- und Contra-Masken- und Maßnahmenfilme anzusehen, immer auf der Suche nach seriöser, glaubhaft vermittelter Wissenschaft ohne Polemik. Ich schätze, Frontenbildung und gegenseitiges Für-verantwortungslos-Erklären hilft hier niemandem. Was auffällt, ist, dass inzwischen beide Seiten vornehmlich von Angst und Sorge getrieben sind. Die einen sorgen sich um ihre Gesundheit und die ihrer Lieben, die anderen darum, dass wir dafür so viel Demokratie und Menschlichkeit verlieren, dass es ein sehr schlechter Handel wird. Und beide Sorgen sind, soweit ich das sehen kann, sehr groß. Um so wichtiger wäre es, tatsächlich, wie Herr Spahn das vor einer Woche gewünscht hat, im Gespräch zu bleiben oder ins Gespräch zu kommen.
An ARD, ZDF, Spiegel und Welt kommt jedeR leicht ran, die muss ich hier nicht liefern. Wer zusätzlich mal Lust hat, nachzuforschen, was denn diese abgefahrenen Leute umtreibt, die meinen, protestieren zu müssen und verzweifelt genug sind, dafür auf eine Demo zu fahren, die hinterher als „wilde Mischung aus Nazis und Verschwörungstheoretikern“ bezeichnet wird, kann in meinen Fundstücken stöbern. Ohne verbitterte Propagandafilmchen der einen oder anderen Seite. Es sind spannende Sachen dabei.
Sprachwissenschaftler Dr. phil. Matthias Burchardt knöpft sich unsere neues Vokabular vor (von Verschwörungstheorie bis Hygienekonzept)
eine kulturwissenschaftliche Studie der Uni Passau „Die Verengung der Welt“ über die Corona-Berichterstattung in ARD und ZDF im Frühjahr 2020,
der Biologe Clemens Arvay über den für uns schon gesicherten Impfstoff
und, unbedingt empfehlenswert aus meiner Sicht:
Prof. Dr. Karina Reiss (Uni Kiel) erklärt Coronaviren im Allgemeinen und in diesem speziellen Fall.
Warnung, das, was sie (mit Expertise aus 15 Jahren Forschung über Biochemie, Zellbiologie und Infektion und zahlreichen, zum Teil preisgekrönten Veröffentlichungen) sagt, weicht von dem ab, was ich im Deutschlandfunk und auf etlichen Zeitungstitelblättern gehört und gesehen habe.
Und hier gibts zu guter Letzt noch das vom Goldegg-Verlag zum kostenlosen Download bereitgestellte neue Kapitel über Immunität aus der zweiten Auflage des Spiegel-Bestsellers „Corona Fehlalarm?“ zum Nachlesen für Interessierte:
Exkurs Ende. Zug kommt an! Venedig!!!!!

Mannomann, ist das schön.
Richtig leer ist es nicht, aber es gibt leere Stellen. Und es ist warm! Gut, bei euch auch, habe ich gehört. Aber dieses Licht, diese Farben, dieses grüngolden schwappende Wasser!

Ich wohne in einer sympathischen WG mit Laura, Architektin Mitte vierzig, ihrer Tochter Maya, 19, und Unistudent Alex aus England. Und bin gespannt auf morgen.
Ich halte euch auf dem Laufenden.
Viele liebe Grüße
Julia
