Venedig 19.-21.9.2020

Hallo ihr Lieben!
Der englische Alex in unserer WG ist schüchtern und freundlich, hatte ich geschrieben – ich wünschte, ich könnte das auch über Carlito sagen, den Fürsten der Savanne in Form eines übergroß geratenen schwarzen Katers. Carlone, Carlotto oder Carlo Magno wären passendere Namen. Oder Kater Karlo.
Gleich am ersten Abend schmiss er sich an mich ran und erzwang sich Streicheleinheiten (die ich ihm da noch sehr gern gegeben habe) und biss mich dann ohne Vorwarnung in die Hand. Nicht fest, nur so „Bild dir bloß nichts ein, hier entscheide ich. Alles.“ Was man auch daran merkte, dass er, als ich das nächste Mal nach Hause kam, meine vermeintlich gut geschlossene Zimmertür aufgekriegt hatte und auf dem Bett lag.
Nachts hatte er bisher Abstand gehalten, weil wegen der großen Hitze alle mit offenen Fenstern und Türen schlafen, damit es wenigstens etwas Durchzug gibt. Und da konnte er zu Laura rein. Bloß heute Nacht hatte sie ihn ausgesperrt. Pech für mich. Da nützte es auch nichts, dass dank des Eukalyptusöls die Mücken mich schlafen ließen. Ein Fünf-Kilo-Kater, der neben einem aufs Bett springt und wieder runter und wieder rauf, stört fast noch mehr.
Freitag Morgen bin ich seinetwegen fast zu spät gekommen. Er soll nämlich nicht aus der Wohnungstür, hat nur eine Katzenklappe im Bad, die wohl auf den Dachboden und von dort aufs Dach führt. Nun hatte er sich aber schwerst in den Kopf gesetzt, an mir vorbei zu entwischen, und so tänzelten wir ein paar Minuten im Flur herum, Tür auf, schnell wieder zu, Kater wegschubsen, – werfen, -schieben, bis ich irgendwann draußen war und er drinnen.

Er hat sich dann gerächt. Auch dafür, dass ich ihm, wenn sein Napf leer ist, zwar Wasser gebe, aber kein Trockenfutter, obwohl er mir nonverbal mitteilt, dass er seit TAGEN nichts mehr zu essen bekommen habe.
Seine Rache bestand zunächst in sehr kleinen feuchten Stellen auf meinem Regenmantel, im Schrankregal und auf der Bettdecke, von denen ich mich fragte, wo die wohl herkämen. Und dann gestern in einem Riesensee mitten auf der Bettdecke und allem, was darunter war. Seitdem habe ich einen Schlüssel fürs Zimmer (den vom Badezimmer, der passt auch in meine Tür. Im Badezimmer muss man jetzt singen.) Denn Schlüssel Umdrehen schafft er noch nicht. Mal sehen, wie lange es dauert, bis er es kann.
Ikea-Matratzen sind übrigens nicht dafür gedacht, dass man sie nach dem Säubern umdreht. Man schläft dann auf einem merkwürdigen Blechgeflecht. Jedenfalls bei dieser. Aber es war das kleinere Übel.

Die Stadt mit all ihrem Stein saugt die Hitze des Tages auf, im festen Glauben, einem damit abends eine Freude zu machen. Bloß hab ich, weil ich doch letztes Mal hier so viel gefroren habe, wohl zwei warme Jacken und eine Thermoweste dabei, aber praktisch nichts Kurzärmeliges.
Die ganze letzte Woche war näher an Pizzaofen als an Kühlschrank. Allmählich kann man aber auch lange Hosen anpeilen. Zumindest morgens. Jetzt, auf der Schulterrasse wünschte ich, ich hätte das Sommerröckchen dabei.

Aus der Reihe „Lustige Zufälle“: Am Wochenende wollte ich das schöne Wetter ausnutzen und auf die Cavallino-Halbinsel, von der ich in dem Mini-Film erzählt habe, fahren. Da kann man sich Fahrräder ausleihen und durch die merkwürdige Salinen- und Schlicklandschaft im Norden der Lagune fahren, halb bewohnt und halb sehr mooriges und wässriges Landschaftschutzgebiet. Da erscheint es einem noch abwegiger, dass jemand auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet da eine Stadt reinzubauen.
Ich trödelte am Samstag Morgen so vor mich hin, ganz froh, keinen festen Schul-Termin zu haben, und suchte mir auf der Website „Che bateo?“ (Venezianisch für „Welches Boot?“) eine Verbindung zur Punta Sabbioni raus. Umsteigen am Lido, wieder eine Verbindung, die so gerade noch mit dem 90-min.-Ticket schaffbar ist.

Ich stieg am Ponte delle Guglie ein und verschlief den größten Teil der Fahrt bis zum Lido. Das Boot brauchte viel länger, als die Website prophezeit hatte, und ich sah am mein Anschlussboot gerade noch abfahren. Das nächste fuhr 30 min. später, da wäre die Fahrkarte abgelaufen gewesen.
Also beschloss ich kurzerhand, den Lido besser kennenzulernen und begann, am venedigseitigen Ufer nach Norden zu wandern. Der Blick ist sehr schön, das Wasser irgendwo zwischen türkis und dunkelpetrol, links fuhren Boote zwischen mir und den Türmen der Stadt, rechts Autos zwischen mir und schicken alten Hotels. Ich war in den Anblick ziemlich versunken und fühlte mich erst nicht angesprochen, als jemand „Julia?“ rief. Beim zweiten Mal guckte ich hoch und stand vor Sayzana, der schönen Sibirierin, mit der ich vor drei Jahren bei Alberto studiert hatte. Welche Freude! Sie hatteich sowieso gern treffen wollen, war mir nur nicht sicher, ob sie noch in Venedig wohnte. Aber ja. Sie arbeitet neben dem Studium immer noch in der Schmuck-Boutique, in der sie damals angefangen hat. Den Job hat sie nicht etwa bekommen, weil sie in irgendeiner Weise Ahnung von Gold und Edelsteinen gehabt hätte, sondern weil sie neben inzwischen wunderbarem Italienisch auch noch muttersprachliches Russisch und sehr gutes Chinesisch spricht, also genau die richtigen Sprachen für die Leute, die hier die meisten Juwelen kaufen. Wäre sie nicht mit ihrem Mann inzwischen auf den Lido gezogen und hätte ich nicht den Anschluss verpasst…. – o.k., dann hätte ich ihr vermutlich eine SMS geschrieben, um sie zu treffen.

Nach einigen Sackgassen, die vor Gartenpforten endeten, und einem Picknick auf der Wiese vor San Nicolò mit schaukelnden Booten vor der Nase (die seht ihr auf obigem Bild. Solche Ziegelsteinrillen waren gewöhnlich dafür gedacht, dass nachher die Marmorfassade besser an der Kirche haftet, und dann reicht das Geld gewöhnlich nicht mehr für den Marmor, deswegen gibt es hier einige solcher quergerippter Kirchen) fand ich den Weg zum nördlichen Strandabschnitt. Erst ein Strandbad dicht an dicht am anderen, alle mit Musikbeschallung, Liegestuhlverleih und Catering, dann eine Schranke, hinter der ein Schotterweg in die Dünen führte.

Also nicht dass ihr euch da Sylter oder Bornholmer Dünen vorstellt, die hiesigen sind eher 75 cm als 75 m hoch. Aber mich bezauberte diese Weite und die ungewohnte Landschaft. Und im Unterschied zu den vollen Parkplätzen und Strandbädern war hier absolut nichts los. Einige abgeschrammte Plankenwege führten schließlich an den Strand, und auch da waren kaum Leute. Anscheindend wirkt das Verleihen von Sonnenschirmen und Liegestühlen enorm anziehend auf die meisten Badewilligen.

Was auf mich anziehend wirkte, waren die Schneckenhäuser und Muscheln, die da rumlagen. Alles voller Schätze!
WIE oft habe ich mir schon gesagt, ich würde ab sofort nie wieder Muscheln aus dem Urlaub mitbringen, weil sie zu Hause nur rumliegen. Aber keine Chance. Das Sammeln mach mich einfach so glücklich, ich kann nicht anders. Diese viele Schönheit, die da einfach so rumliegt. Zum Teil zu tollen Gebilden zusammengewachsen wie diese Maus aus Schneckenhaus und Mini-Auster:

Gleich das erste Schneckenhaus, an dem ich zog, wehrte sich und schien am Nachbarschneckenhaus anzuhaften, obwohl es so aussah, als wäre keine Schnecke mehr drin. Dann sah ich etwas strampeln und wedeln, als ich das Gehäuse anhob. Ein winzig kleiner Einsiedlerkrebs winkte mir empört zu, ich solle ihn SOFORT wieder runterlassen, er habe da Wichtiges zu tun mit der neuen Bekannten. Ups. Ich ließ ihn wieder zu Wasser.

Bei näherer Betrachtung war zu sehen, dass abschnittsweise nicht ein einziges der kleinen Schneckenhäuschen mehr von der Originalbesitzerin bewohnt war. Alle von Untermietern, die mit ihren mobilen Behausungen hektisch hin- und herkrabbelten und taten, was Krebse eben so tun, wenn sie sich unbeobachtet glauben.

Ganz offenbar können sie unter Wasser atmen, keiner von ihnen versuchte jemals aufzutauchen, um etwa Luft zu schnappen.

Hier die gefundenen Schätze, die NICHT wegliefen beim Aufheben:

Jetzt liegen sie alle auf der Kommode in meinem Zimmer. Laura rief begeistert „Ohhh, che bello!“ Sie kann auch nicht anders, als zu sammeln.

Und steht nicht dieser ganze Sommer irgendwie unter der Überschrift „bezaubernde Bahausungen“? Von Lehmhütten über Venezianische Paläste bis zu gepunkteten Schneckenhäusern in Zweitnutzung.

In Castello ist es offenbar nicht verboten, den Müll auf die Straße zu legen. Also sind alle Möwen aus Cannareggio dahin umgezogen und leben da jetzt fürstlich. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, dass es gar nicht so einfach ist, ein hartgekochtes Ei zu öffnen und zu essen, wenn man es freihändig mit dem Schnabel tun muss. Aber es geht.

Sonntag brachte die Folge „schöne Zufälle, Teil 2“. Ich wollte nun endlich die Radtour durchs Moor nachholen – aber als ich am Bootsanleger stand, hatte ich sowas von überhaupt keine Lust auf eine Stunde mit Maske vor der Nase, zumal ich durch meine wiederverwendete Einwegmaske immer schlechter Luft holen konnte und das Gefühl hatte, das pure Gift einzuatmen. Was gar nicht so unwahrscheinlich ist, denn sie konnte jetzt ja eine hübsche Zucht an Bakterien und Schimmelpilzen aufbauen durchs tägliche stundenlange Anhauchen. Außerdem die Weichmacher und Papierleime und sonstige Zutaten, die nicht für den Dauergebrauch gedacht sind…
Und ich hatte keine Lust, mir eine von den hübschen mit San-Marco-Motiv oder Blümchen drauf zu kaufen. Ich lehne es ab, aus etwas, das mir gegen meinen Willen aufgedrückt wird und von dem ich annehme, dass es nicht funktionieren kann, denn auch bei Operationen werden die ja genutzt, um die Übertragung von Keimen zu reduzieren, nicht aber von Viren, die so klein sind, dass sie durch die Poren einfach durchfliegen können, ein modisches Statement zu machen. O.k., auch „Ich zeige mit meiner Maske, dass ich Maskentragen blöd finde“ ist natürlich ein modisches Statement. Aber jedenfalls war ich so mißgelaunt, dass ich lieber keinen Ausflug machen wollte als wieder zwei Stunden mit Beklemmungen zu versuchen, an der Maske vorbeizuatmen. Das Boot, wo man bei Halbmast-Maske nicht ermahnt wurde, war nämlich das einzige, wo das geklappt hat.
Also marschierte ich von der Vaporetto-Haltestelle Fondamente Nuove wieder weg und verfranzte mich in den Gassen der nördlichen Stadtsechstel. Die Kirche San Frencesco delle Vigne mit dem hinreißenden Madonnengemälde mit den vielen Vögeln drauf war leider zu. ein paar Plätze weiter sprach mich ein Mensch mit wilden Locken und ebensolchen Zahnlücken an, wo ich denn hinwolle, Arsenale oder San Marco? Offenbar wollen Touristinnen in der Gegend immer nur zu einem der beiden Orte. Ich sagte, es sei mir völlig egal, ich sei nur am Spazierengehen. Daraufhin meinte er, er gehe zum Arsenale (der ewig alten Werft mit den aus Griechenland geklauten Marmorlöwen mit von wikingischen Söldnern reingeritzten Runen drauf) und könne mir den Weg zeigen. Also liefen wir im Zickzack durch Gassen und Plätze. Er war überzeugt, ich verstünde ihn nicht die Spur und erklärte mir alles fünfmal und in Ein-Wort-Sätzen. Witzigerweise greift auch da das als „Pygmalion-Effekt“ aus der Schulforschung bekannte Phänomen. Ist der Lehrer übezeugt, bei den Schülern sei Hopfen und Malz verloren, geht deren IQ sofort messbar um erschreckend viele Punkte nach unten. Gibt man dieselben Schüler einer Lehrkraft mit der vertraulichen Info, das seien Hochbegabte, die aus purer Unterforderung schlecht abschnitten, sind dieselben Kinder in kurzer Zeit verblüffend viel besser in Mathe oder was auch immer. Jedenfalls brachte ich bald kaum noch einen geraden Satz zusammen, was ihn aber nicht störte. Er bestätigte, dass es sich in Castello sehr schön ruhig lebt im Gegensatz zu den zentraleren Gegenden, und dieses Jahr natürlich besonders, und beruhigte mich, dass in Venedig nicht viele CoViD-Fälle gewesen seien, und jetzt gar keine mehr. „Siamo puliti.“ – Wir sind sauber.

Vor den geklauten Löwen trennten wir uns sehr freundschaftlich, und ich setzte mich auf eine Steinbank an einer Brücke und döste vor mich hin. Eine halbe Stunde später liefen wir uns auf dem anderen Rio-Ufer wieder über den Weg, er kam gerade vom Supermarkt zurück. „Salve!!!! Vuoi Patatine?“ Er hatte mehrere Tüten entsetzlicher Kartoffelsnacks in absonderlichen Formen gekauft und bestand darauf, mir eine zu schenken. „Son buoni!“ Er erzählte noch, dass er nach Chioggia fahren würde, um zu wählen (hier sind gerade Regional- und Bürgermeisterwahlen), und dass er sich seit 25 Jahren als „Sagrestano“ in zwei Kirchen um alles kümmert bis hin zur Pflege der Gemälde, und dass es jetzt zehn Tage regnen würde. Dann verabschiedeten wir uns noch einmal herzlich. Donnerwetter. Auf Pellestrina hatte ich schon Leute auf der Straße getroffen, die es schön fanden, mal mit Touristinnen zu quatschen, aber in Venedig selbst doch nicht!

Es zog sich merklich zu, und ich strolchte die Via Garibaldi entlang, eine frittierte Kürbisblüte in der Hand, die ich mir in einer Bar als Vorwand geholt hatte, dort auf die Toilette zu dürfen. Die Via Garibaldi ist eine der insgesamt zwei breiten Straßen Venedigs, die beide von Napoleon angelegt wurden durch Zuschütten eines zwischen zwei begehbaren Ufern fließenden Rios. Damit man auch mal IRGENDWO Platz zum Flanieren hat. Und für miltitärische Aufmärsche und so.

Und rechts ganz hinten war ein Laden mit sehr ungewöhnlichen Hand-Drucken von Fotografien. Auf Bütten, auf Stoff, auf Leder. Von der Optik her zwischen Holzschnitt, Zeichnung und Foto. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Und da hing ein kleines Schild: In einem einstündigen Workshop zeige ich Ihnen die Technik, die ich hier entwickelt habe. Ich fand das spannend. Ich ging weg. Nach einer kurzen Runde stand ich wieder vor dem Laden. Der Besitzer winkte mich rein. Er erklärte ein bisschen, er nannte den Workshop-Preis…. uuuups – aber o.k. Er ist der Einzige, der das kann, außer denen, denen er es beigebracht hat, er hat da Jahre des Experimentierens reingesteckt, und es IST eine tolle Technik. Da sind 90,- € wohl nicht zu viel. Zumal eine Ruderstunde in Venedig das auch schon kostet. Ich sagte, ich müsste mir das überlegen. Wir quatschten uns fest. Irgendwann fiel mir auf, dass ich unmaskiert war. Ich sagte, „Oh Entschuldigung, ich habe vergessen….“, er winkte ab. „Mir völlig egal.“

Ich fragte ihn, wie er darauf gekommen sei, auf diese Technik, durch Zufall oder bewusste Suche, und darauffhin öffnete er seinen „Giftschrank“, also die Mappe, wo draufsteht „Büchse der Pandora, nicht öffnen!“ und zeigte mir die Bilder, für die er eine neue Art zu drucken gebraucht hatte. In stundenlanger Arbeit hatte er Lieblingsstellen aus Lieblingsbüchern auf die Haut seiner Modelle kalligraphiert, zum Teil mit Zeichnungen und Ornamenten dazu, und sie dann fotografiert. Und diese Fotos hatte er dann von verschiedenen Druckereien und Copyshops versucht auf eine künstlerisch überzeugende Weise drucken zu lassen, und nichts sah RICHTIG aus. Daraufhin begann er, nach Möglichkeiten zu suchen.
Dann sagte er: „Wenn du zehn Minuten Zeit hast, kannst du bei einem Druck zugucken“, und goss verschiedene Flüssigkeiten von hinten und vorn auf sein bedrucktes A-4-Blatt, föhnte sie jeweils wieder trocken, verteilte dicke klebrige Ölfarbe o.ä. drauf, spachtelte sie dünn, pinselte mit Wasser, rieb mit einem dicken Quast – und plötzlich kam das Originalfoto wieder zum Vorschein, ein bisschen richtung Linolschnitt verfälscht. Daraufhin legte er es auf ein Stück dickes Büttenpapier, deckte es mit einer Filzplatte ab und walzte es zweimal durch eine Art Nudelmaschine oder Wäschemangel. Und dann war das Fotomotiv aufs Schönste auf das edle Papier übertragen und wirkte großartig. Und er sagte: „Weißt du was? Da du so wenig arbeiten konntest dieses Jahr, würde ich dir den Workshop auch für 70,- € geben.“
So, jetzt weiß ich, er ist jeden Tag da, bis mindestens 19:00 Uhr, und sobald mal mieses Wetter ist, kann ich da hinspazieren und etwas lernen, von dem ich nie gedacht hätte, dass es mich interessiert.
Und ich könnte meine Knotenzeichnungen damit drucken. Oder eine Kanon-Sonderausgabe. Oder Fotos.

Ich war ganz aufgeregt, weil ich dachte, Nicole und Fritjof müssten das lernen, um Nicoles Fotos auf unerwartete Sachen drucken zu können und in Fritjofs Laden ein Vermögen damit zu verdienen. Der Ladenbesitzer sah es gelassen. „Sie muss nicht selbst herkommen. Ich zeige es dir, und du zeigst es ihr. So einfach ist das. Ich habe das schon fünfjährigen Kindern beigebracht.“ Mit dieser beruhigenden Einschätzung meiner handwerklichen und pädagogischen Qualitäten machte ich mich wieder auf.

Und heute nach dem Unterricht auf der Schulterrasse sagte wieder jemand „Julia?“ und eine Frau, von der ich wusste, dass ich sie kenne, nur nicht, woher, guckte mich erstaunt an. Es stellte sich raus, ich hatte ihr vor Jahren in meinem Buchenried-Oster-Singkurs von dieser Schule erzählt, und seitdem ist sie Fan und kommt fast jedes Jahr. Außerdem hat sie die Erzählerinnen-Ausbildung bei Peter Glass gemacht, die auch Luisa gemacht hat, und die ich ihr deshalb empfohlen hatte. Und auch davon war sie begesitert. Toll. Und, weil sie selbst malt und Musik macht und schreibt und Kulturspaziergänge anbietet und am liebsten alles miteinander verbinden will, habe ich ihr von dem Druck-Workshop erzählt.
Wie es aussieht, machen wir ihn jetzt miteinander. Donnerstag oder Freitag.

So, Sayzana hat noch nicht geantwortet, jetzt gehe ich bummeln. Um viertel vor sechs treffen wir uns zum Kunstgeschichts-Spaziergang mit Ester, die uns letzte Woche auf den Spuren Tintorettos durch Cannareggio geführt hat.
Wusstet ihr, dass Tintoretto nicht nur einen seiner Söhne als Maler ausgebildet hat, sondern auch seine illegitime älteste Tochter Marietta, die er mit einer deutschen Geliebten hatte? Sie war vermutlich die erste professionelle Malerin Venedigs, und die Legende erzählt, dass er sie als Jungen verkleiden musste, damit das ging. Als sie mit etwas über dreißig starb, bestand er darauf, dass sie in „seiner“ Kirche Madonna dell’Orto begraben wurde. Sein eigenes Grab ist daneben.
Mal sehen, was Ester heute zu erzählen hat.

Viele liebe Grüße
Julia

Venedig 14.-18.9.2020

14.9.
Hallo ihr Lieben!
Ihr erinnert euch, was ich gestern geschrieben habe? Heute beim Einschreiben habe ich erfahren, dass die Maskenpflicht während des gesamten Unterrichts gilt. Und dass Omas Seidenschal hier mitnichten als ausreichend angesehen wird. Ich bekam eine Einmalmaske und die strenge Auflage, nachher in der Apotheke welche zu holen. Liesbeth aus Wien hat eine großartige mit Markusplatz drauf. Und sie sieht aus, als würde sie passen und einem nicht mehr Luft abschnüren als nötig.
Wir fingen zu fünft, verteilt auf fünf Stühle mit an der Stuhllehne angeschraubten Klapptischchen, Tische sind unhygienisch, die Vorstellungsrunde an, da kam die sechste, für die kein Stuhl mehr da war. Und auch kein Platz in der kleinen Aula. Alberto fragte: „Würde es euch was ausmachen, auf die Terrasse zu gehen?“ „Nein!“, schrien wir alle und stürzten nach draußen. Großer Tisch, Schattendach und schöne Ausblicke in drei Richtungen. Und: keine Masken. Gott sei Dank.

Dinge, die ich hätte mitbringen sollen: Sonnenhut, Stadtplan von Venedig, MÜCKENSCHUTZ! Wer hätte gedacht, dass es in Venedig so unfassbar viele Mücken gibt? Ich dachte, die bräuchten stehendes Süßwasser, um sich zu vermehren. Offenbar haben die Pfützen des letzten Regens schon ausgereicht. Oder Salzwasser stört sie nicht. Ganze Chöre umsurrten mich in der Nacht, und ich habe mir ständig selbst Ohrfeigen verpasst und kaum mal eine erwischt. Erst nach drei Uhr war ich so müde, dass es mir egal war.
Die am nächsten Tag eilig gekaufte Flasche Autan beeindruckte die Viecher nicht die Bohne. Die Verkäuferin im Bioladen tags drauf gab zu, nichts Adäquates zu haben, ich solle aber in die Apotheke gehen und mir ein Mittel namens „Jungle“ holen, DAS helfe.

In einer kleinen, leeren Apotheke am östlichsten Zipfel Venedigs, Santa Elena, wohin die meisten Touristen sich nicht verlaufen, bekam ich eine ausführliche Beratung – denn sie hatten kein „Jungle“. Das vergleichbare Produkt, das der Apotheker mir vorgeschlug, hatte so viele Gefahrenhinweise (für mich, nicht für die Mücken) aufgedruckt, dass es mir unheimlich war. Einige andere waren nicht viel besser. Dann gab er mir noch eins auf der Basis von Eukalyptusöl und meinte, das sei allerdings schwächer. Egal, ich habs gekauft – und die Mücken mögen es überhaupt nicht. Sie fliegen mich jetzt nachts an und stürzen sich nach einer kurzen Berührung angeekelt davon, um irgendwo zu brechen. Damit kann ich gut leben.

Barbara wollte wissen, wie voll denn der Markusplatz so sei. Ich habe ihr ein paar Abendfotos davon gemacht. Weniger voll als Karneval auf jeden Fall.

Und immer und immer wieder verzaubern mich diese Spiegelungen. Wenn ein Rio (für die Venezianer gibt es nur einen Kanal, das ist der Canale Grande, alles andere, was wir mit Amsterdam-Erfahrung als „Kanäle“ bezeichnen, sind keine. Sie sind ja auch nicht gegraben, sondern die noch vom Meer übrigen nassen Stellen zwischen den Inseln) – wenn also ein Rio ganz glatt da liegt und man das Foto auch umdrehen könnte und als Architekturpostkarte verkaufen – und dann kommt ein Boot und verquirlt das Wasser, und dann gibt es ein paar Minuten die irresten Muster, bis die Gebäude wieder klar werden. Das ist zwar mindestens so ein Anthroposophenfernseher wie das heimische Aquarium, aber es fasziniert mich total.

17.9. Ein Nachmittag am Strand von Pellestrina, der vielleicht magersüchtigsten Insel Europas. In diesem Mini-Film könnt ihr sehen, wie schmal sie ist.

Eine zärtlich warme Brise vom Meer her, das blau und glatt vor mir liegt, die Wellen so klein und ebenmäßig, dass sie nicht einmal rauschen, nur plätschern. Ein paar vereinzelte große Schiffe schieben sich über den Horizont, ein paar ebenso vereinzelte italienische Kinderstimmen gellen von rechts herüber, wo eine Familie unterm selbstgebauten Sonnendach aus Treibholz, Planen und mitgebrachten Klappmöbeln sitzt. Eine junge Frau schwingt auf einer zwischen die Balken gehängten Schaukelbank und beobachtet die Kinder.
Als ich gegen zwei hier ankam, war ich fast die einzige, später am Nachmittag kamen ein paar, so dass man immer so gegen acht bis zehn Leute in Sichtweite hatte. Dummerweise müsste ich der Liste der Dinge, die ich hätte einpacken sollen, noch den Badeanzug hinzufügen. Ich dachte, ich hätte den eingepackt. Ich wusste ja, dass es hier ein Meer gibt.
Ich musste mich jetzt also entscheiden, mit entsagungsvollem Augenaufschlag NICHT zu baden – oder etwas zu tun, das sich in Italien nicht gehört. Die Entscheidung hat einige Zeit in Anspruch genommen. Aber Himmel, man ist sowieso schon viel zu oft feige.

Mit der Wohnung habe ich es diesmal viel besser getroffen. Nicht nur, dass ich das große Zimmer mit Doppelbett habe (und Alex die kleine Mönchszelle), es ist auch noch hell und mit wenigen schlichten IKEA-Möbeln in Weiß eingerichtet, ohne erschlagende Bücherwand mit dreifach geschichteter und gestopfter psychoanalytischer Fachliteratur. Außerdem muss ich kein Extra-Mieterinnen-Plastiktischtuch unterlegen, wenn ich esse, und darf dasselbe schöne Blümchengeschirr nutzen wie die anderen. Sogar ein Schrankfach und eine Kühlschrank-Etage habe ich bekommen.
Laura ist außerordentlich sympathisch, und es besteht immer die Gefahr, dass wir uns verquatschen, wenn wir uns beim Frühstück treffen. Der englische Alex ist schüchtern und freundlich und nimmt von sich aus morgens den Müll mit zum Boot. Den darf man jetzt nämlich in Cannareggio nicht mehr auf die Straße legen oder an Haken hängen wie vor zwei Jahren, nein, man muss ihn selbst zum nächsten Müll-Boot bringen, und zwar zwischen 7:00 und 8:30 Uhr, danach ist das Boot weg. Nichts für Kleinkünstler-Tagesabläufe. Und ich bin sicher, die Möwen und Ratten trauern ihrem allnächtlichen Selbstbedienungsbuffet sehr hinterher.

Die Stadt – was soll man über diese Stadt noch sagen? Sie ist natürlich unvergleichlich in ihrer zu Herzen gehenden Schönheit und Zerbrechlichkeit.

Die Tour nach Pellestrina war ein schöner Anlass, mal wieder Vaporetto zu fahren, zum ersten Mal dieses Jahr. Aber es machte nicht so richtig Spaß. Die Hinfahrt schon, da hatte ich einen Sitzplatz draußen und starrte auf die Paläste. (Wie ihr seht, zum Teil durch die Handy-Linse.)

Auf der Rücktour war die Wahl zwischen drinnen Sitzen und draußen Stehen, und ich blieb draußen. Es wurde dunkel, und man kann dann ganz wunderbar durch die gardinenlosen Fenster sehen und feststellen, dass diese Paläste von innen noch original 17. oder 18. Jahrhundert sind, mit Deckenfresken, riesigen Kronleuchtern und wandgroßen Ölgemälden. Sie sind alles, nur nicht gemütlich.
Ein bisschen war die Zeit knapp mit meinem Ticket, denn es gilt immer nur 90 Minuten. Und mit Bus auf Pellestrina, Fähre zum Lido, weiter Bus und dann Vaporetto war die erste Stunde schon aufgebraucht. Und an der Accademia hielten und hielten wir, und es gab Palaver, und ich kriegte erst nicht mit, was los war.
Ein junges Pärchen, das am Ufer stand, wurde angeschrien. Laut, lange und überzeugt. Der junge Mann wischte sich Tränen von den Wangen. Was passiert war: Er hatte keine Maske dabei.
Auf dem Vaporetto steht man draußen im Wind. Es ist nicht voll. Wir sind in Italien. All das hätte mich vermuten lassen, dass man ihn entspannt mitfahren lassen würde, allenfalls mit der Ermahnung, nächstes Mal besser eine dabeizuhaben. Aber nichts dergleichen. Es gab eine Riesenaufregung, und alle waren hinterher wütend. Der Bootsführer schäumte gerade zu, noch für die nächsten drei Stationen schimpfte er laut vor sich hin. Sein Argument: Für den sind das FÜNF Minuten! Ich muss das Ding sieben Stunden tragen und mache es doch auch.
Für jeden ist klar, dass er Recht hat und der andere ein rücksichtsloser Idiot ist. Von außen kann man sehen, dass beide Standpunkte sich wahr anfühlen können, und dass es sehr traurig und erschreckend ist, wie wenig Gesprächsbereitschaft noch besteht in all diesem Richtigmachen.
Übrigens blieben alle die mit der Maske auf Halbmast vollkommen unbehelligt. Es scheint tatsächlich weniger die Angst vor gemeingefährlichen Killerviren zu sein als dieses: „Wenn ich muss, müsst ihr auch.“
Ich bin dann ausgestiegen, als meine 90 min. abgelaufen waren, und den Rest zu Fuß gegangen.

In der Schule wird uns jeden Morgen Fieber gemessen. Allen. Vorm Reinkommen. Das reinste Lazarett.
Ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass ich bisher fieberfrei war.
Selbst wenn man ins Kaufhaus will, den in den damaligen Venedigberichten schon vielgerühmte „Fondaco dei Tedeschi“ mit der spektakulären Dachterrasse, wird die Temperatur genommen, und niemand darf Türgriffe anfassen. Nur Treppengeländer. Man muss das nicht logisch finden. Für die Türgriffe gibt es extra Personal. Und dafür, alle dummen Touristen die richtige Richtung durch die neu eingerichteten Einbahn-Wege zu lotsen. Und auf die Terrasse kommt man nur noch nach elektronischer Voranmeldung. Wenn man aber erstmal da oben ist, ist es nicht einfach, den Weg nach unten wieder zu finden, weil man erst ganz außenrum muss und dann auf der ANDEREN Treppe wieder runter. Und dann macht einem jemand die Tür auf, ohne dass man einen einzigen Schuh zu Phantasiepreisen gekauft hätte.

Alberto ist nach wie vor ein großartiger Lehrer, nur völlig mit den Kräften am Ende. Seit Januar unterrichtet er quasi durch, nur einmal hat er fünf Tage frei gehabt. Und die Arbeit ist mehr geworden, nicht weniger, weil sie, während die Schule geschlossen war, alle Onlinekurse angeboten haben und jetzt mit Kleingruppen vor- und nachmittags arbeiten, dazu kommen EinzelschülerInnen und Online-Literaturkurse.
Ich habe gefragt, ob es wenigstens mehr Geld gäbe.
Im Gegenteil. Es gibt weniger. Argumentation der Schule: Durch die kleineren Gruppen haben wir weniger Einnahmen, also müssen wir die Ausgaben kürzen.
Vollkommen logisch. Merkwürdige Idee von diesen Angestellten, dass sie begrenzte Ressourcen haben und noch dazu gern davon leben können würden. Wer schon das Glück hat, in Venedig zu wohnen, sollte seine Ansprüche ansonsten nicht zu hoch hängen. È il prezzo da pagare – das ist der Preis, der dafür zu zahlen ist.
Deshalb können wir Alberto nur noch eine Woche genießen, dann hat er endlich Sommerurlaub – eine ganze Woche, und wir bekommen eine Vertretung, o je, o je. Ich hoffe, es ist Damiano, der muss im Moment hier als Pförtner und Fiebermesser arbeiten, dabei unterrichtet er so gut.

Wenn ich mir das so durchlese, mäandere ich schon wieder ganz schön. Struktur, Frau Hagemann, Struktur!
Vorhin durften wir alle einen Kurzvortrag halten, um uns zum freien Sprechen zu ermutigen. Wir sollten über einen Zeitschriftenartikel unserer Wahl referieren. Ich hatte einen über portugiesische Feuerwehrziegen vorbereitet, habe aber gesagt, ich könnte entweder das erzählen oder zeigen, wie man einen einfachen Dreierknoten zeichnet.
Sie wählten den Knoten. Meine ganzen Vokabeln wie „verkohlte Kadaver von Kühen“ (carcasse carbonizzate di mucche), Waldbrände (incendi boschivi) und „das Haus ging in Rauch auf“ (la casa andava in fumo) waren damit hinfällig. Aber die KollegInnen konnten danach Dreierknoten. Luca, unser 18jähriger Youngster, hat ein großartiges zweifarbiges Exemplar in sein iPad-gezeichnet.

Keinesfalls möchte ich nun mit der Venedig-Berichts-Tradition brechen, die Mails mit schlimmen Dingen aufhören zu lassen.
Ihr erinnert euch, dass gegen die durch besinnungslos fütternde Touristen verschärfte Taubenplage auf dem Markusplatz ein wohlmeinender Bürgermeister mal diese großen und schönen Möwen eingeführt hat?
Ich konnte nun selbst beobachten, dass sie ihren Job sehr pflichtbewusst erledigen.

Mitten auf dem Markusplatz fand diese reizende kleine Hausschlachtung statt.
Und weil nicht immer genug Tauben da sind, aber fast immer genug TouristInnen, durfte ich auch schon zwei tätliche Luftangriffe auf mein hervorragendes Thunfisch-Oliven-Tramezzino vom Café Rosso erleben. Ich konnte es aber für mich sichern und bin nicht verhungert.

Ich hatte euch so blauäugig geschrieben, ich würde euch auf dem Laufenden halten, aber das ist gar nicht so einfach. Wenn ich nämlich den ganzen Tag rumlaufe, ohne Computer, und die Wärme genieße und furchtbar viele Fotos mache, abends erst so spät zurückkomme, dass es gerade noch zum Kochen und Essen reicht, und morgens doch für meine Verhältnisse früh los muss, weiß ich überhaupt nicht, wann ich schreiben soll.
Jetzt sitze ich seit drei Stunden auf der Schul-Terrasse unterm Segeltuchdach, höre Livello 1 mit halbem Ohr zu und gehe erst hinterher Stadtbummeln. Damit zumindest die von euch, die drauf warten, was zu lesen kriegen.
Seid umarmt aus der Ferne, ich grüße euch alle herzlich!
Julia

Reisemeise wieder unterwegs

12.9.
Hallo ihr Lieben,
nachdem jetzt auch noch quasi die letzten Events für dieses Jahr (zwei weitere Konzerte, einmal Terzettsingen im Gottesdienst, ein ausführliches Chorwochenende und ein Chorprobentag) abgesagt worden sind und nur noch fünf Tage Schreibseminar (sehr viel Spaß, aber leider zu VHS-Honorar) und ein Silvestergottesdienst (noch mit Fragezeichen) übrig geblieben sind im Kalender, verbrachte ich erstmal die vermutlich depressivste Woche meines Lebens und fing an, mich nach alternativen Berufen umzusehen. Aus Familie und Freundeskreis kamen hilfreiche Vorschläge, von Feng-Shui-Beraterin über Sozialarbeit bis Waldführerin. Dumm nur, dass ich so sehr daran hänge, mit und für Menschen singen zu wollen. Gut, beim Wohnungen-Dekorieren könnte ich singen und die BesitzerInnen zwingen, mitzumachen, als Strietwörkerin böte es sich sicher auch an, und auch Waldführungen könnte man gemeinsam singend durchführen. Überhaupt ist ja Draußen-Singen so viel legaler.

Da ich da im Moment noch keine Entscheidung treffen wollte, mir aber auch das Zuhausesitzen überhaupt gar nicht mehr bekam (trotz des neuen Klaviers), habe ich mich zunächst für ein achtwöchiges Online-Berufs-Orientierungs-Seminar angemeldet und dann in Venedig angefragt, wer am Istituto Venezia diesen Monat Livello 5 unterrichtet. Weil (langjährige MitleserInnen werden sich erinnern) die Kurse da entweder ganz großartig oder entsetzlich quälend sind, je nachdem, wer vorne steht. Diesen Monat: Alberto Bettin, didaktisches Genie, Jazzpianist, Singer-Songwriter. Es lohnt sich, ihn zu googeln und sich seine Songs anzuhören.
Und da habe ich mich kurzerhand angemeldet. Montag gehts los. Ich habe das Istituto gebeten, mir diesmal eine andere Gastgeberin zu vermitteln und vorsichtig angemerkt, sie dürfe gern freundlich sein. Und seit gestern Abend weiß ich, dass es klappt, und dass Laura mir sympathisch ist und die Wohnung gemütlich aussieht.
Wenn man die venezianischen Fußböden der Marke „Schotter in Aspik“ mag.
19-jährige Tochter und Katze wohnen dort ebenfalls, und ich freu mich drauf.

Ich verpasse jetzt leider den 75. Geburtstag meines Nachbarn Otto (des Schiffers) und auch das gemeinschaftliche Herz-Begrünen, das dem vorausgeht.
Die StädterInnen unter euch kennen das vielleicht nicht, aber bei uns wird immer, wenn es was zu feiern gibt, ein 1,50m hohes stehendes Herz aus OSB-Faserplatte mit Tannen- oder Lebensbaumgrün betackert – irgendjemand opfert immer ein Stück Hecke – und dann mit selbstgemachten Krepppapier- oder Serviettenblumen in jeweils genau durchdachten Farbkombinationen umkränzt. Das können die Farben des Lieblings-Fußballvereins sein oder die zum Berufsstand passenden. In die Mitte kommt dann das Alter als Lichterkettenzahl, damit man es auch nachts vor Augen hat. Otto bekommt also ein maritimes Design, die Zahl aus Schiffstau gebogen und mit LEDs umtüllt. Das wird dann am Geburtstagsmorgen unter großer Heimlichtuerei in den Garten gebracht und aufgestellt. Und es ist einfach SO schön, eins zu kriegen. Und auch, sie gemeinsam zu basteln und sich schon drauf zu freuen, wie der oder die Beschenkte dann gucken wird.
Und morgen sitzen dann alle bei Otto und Gisela im Garten, futtern und konsumieren gehaltvolle Getränke. Und ich nicht, denn ich sitze im Zug nach Venedig. Ich hätte gern beides gehabt.

Immerhin habe ich in München mit meiner Pianistin Annette alles Mögliche nur zum Spaß geprobt (und dann unauffällig probiert, es Haus Buchenried, die uns im Sommer für ein Konzertchen angefragt hatten, stattdessen als Oktoberkonzertchen schmackhaft zu machen) und meine Freundin Ingrid endlich mal wieder gesehen.

Ich nehme mal an, dass ich euch für den Rest des Monats immer mal wieder berichte, wie es sich gerade in Venedig so lebt.
Massimo, „mein“ Chorleiter, hat schon geschrieben, dass er und Stefania sich freuen, mich zu sehen, und auch, wenn sie dort genausowenig proben können wie die Chöre bei uns, könnten wir uns doch zum Quartettsingen treffen. Toll!
Nachteil: Stefania ist richtiger Alt, das heißt, ich werde mich durch den Sopran winseln müssen….

13.9., aus dem Zug:
Hallo ihr Lieben,
dicker Nebel verwandelt das bayrische Voralpenland in eine Theaterkulisse nach hinten blasser werdender Bergsilhouetten mit einem sich mühenden Sonnenpfennig darüber. Ab und zu weht eine Wolke zur Seite und an Scherenschnitte erinnernde Zweige sausen am Fenster vorbei.
Dünner und dünner wird der Schleier, steile, saftige Wiesen stapeln sich in immer kühneren Winkeln. Häuser mit laubgesägten Balkonverkleidungen unter Lasten von Geranien.

In Innsbruck steigt eine junge Frau zu, Tina, und lüpft die Maske, um sich vorzustellen. Ich enttüdele mich von Omas Seidenschal und sage: „So sehe ich aus“. Wir lassen beide die Masken unten, schließlich haben wir das Sechserabteil für uns und fühlen uns gleich wie aus einem Haushalt. Wie wohltuend, mal wieder mit jemandem einfach so ins Gespräch zu kommen. Das Mienenspiel zu sehen, zu fühlen, für was sie sich begeistert und für was nicht.
Sie ist unterwegs zur ersten Bergwanderung ihres Lebens, eine spontane Entscheidung, und weiß jetzt nicht, ob das nicht Wahnsinn war und sie zwischen hypertrainierten alten Bergfexen verängstigt über zu schwierige Kletterpfade wanken wird. Wir einigen uns darauf, dass zu geführten Bergtouren mit Führer vermutlich nicht die ganz schlimmen Reinhold Messmers erscheinen. Ich wünsche ihr, dass es ganz traumhaft wird.
Offenbar muss man auf dem Matratzenlager von Berghütten nicht unbedingt maskiert sein, ebensowenig wie im Liegewagenabteil. Ich hatte mich das schon gefragt.
Der Schaffner von trenitalia bringt sofort nach der österreichisch-italienischen Grenze für jede ein eingepacktes Desinfektionstüchlein vorbei, vermutlich, um das Einschleppen von Krankheiten zu verhindern. Es hilft, wie hinten draufsteht, gegen Keime. Nicht gegen Viren. Es wird also auf den Placebo-Effekt gesetzt. Das Tuch hilft aber ganz sicher bei der Zucht erstklassiger multiresistenter Mikroben, das ist ja auch schon ein schönes Ergebnis.

Als Tina weg ist, schlafe ich ein und verpasse eine Menge erstklassigen Bergpanoramas. Es wird immer sonniger draußen. Die Häuser wandeln sich zu zunehmend abgeschabten Beton-Legebatterien mit schwarzen Regenwasserstreifen an der Fassade und Klimaanlagenkasten zur Bahn hin.

Eine Italienerin steigt zu, mit der ich nur wenige Worte wechsle. Ich kann ja nicht sehen, wie sie aussieht. Sie häkelt schweigend. Irgendwo habe ich gelesen, dass viele Asiatinnen die Maske nicht deshalb schon seit Langem aufgesetzt haben, weil sie Keime fürchten, sondern um sich Privatheit zu verschaffen und unerwünschte Annährerungen zu entmutigen. Ich glaube, das klappt ganz gut.
In Verona steigt sie wieder aus samt ihrem Häkelzeug in rosa und türkis, und ich bleibe allein zurück. Wenn Venedig so leer ist wie dieser Zug, werde ich Dinge sehen, die ich sonst nie sehen konnte, weil immer jemand davor stand.

Ihr merkt schon, dass es mir immer schwerer fällt, mich zu maskieren und in Masken zu gucken.
Wir schauen in verdeckte Gesichter, die wir nur schwer entschlüsseln können. Wer gern möchte, kann durch besonders deutliches Lächeln oder ein paar warme Worte die verlorengegangene Verbindung wieder herstellen. Wo das nicht passiert, bleibt sie verloren.

Exkurs:
Ich hatte in den letzten Tagen viel Gelegenheit, mir alle möglichen Pro- und Contra-Masken- und Maßnahmenfilme anzusehen, immer auf der Suche nach seriöser, glaubhaft vermittelter Wissenschaft ohne Polemik. Ich schätze, Frontenbildung und gegenseitiges Für-verantwortungslos-Erklären hilft hier niemandem. Was auffällt, ist, dass inzwischen beide Seiten vornehmlich von Angst und Sorge getrieben sind. Die einen sorgen sich um ihre Gesundheit und die ihrer Lieben, die anderen darum, dass wir dafür so viel Demokratie und Menschlichkeit verlieren, dass es ein sehr schlechter Handel wird. Und beide Sorgen sind, soweit ich das sehen kann, sehr groß. Um so wichtiger wäre es, tatsächlich, wie Herr Spahn das vor einer Woche gewünscht hat, im Gespräch zu bleiben oder ins Gespräch zu kommen.
An ARD, ZDF, Spiegel und Welt kommt jedeR leicht ran, die muss ich hier nicht liefern. Wer zusätzlich mal Lust hat, nachzuforschen, was denn diese abgefahrenen Leute umtreibt, die meinen, protestieren zu müssen und verzweifelt genug sind, dafür auf eine Demo zu fahren, die hinterher als „wilde Mischung aus Nazis und Verschwörungstheoretikern“ bezeichnet wird, kann in meinen Fundstücken stöbern. Ohne verbitterte Propagandafilmchen der einen oder anderen Seite. Es sind spannende Sachen dabei.
Sprachwissenschaftler Dr. phil. Matthias Burchardt knöpft sich unsere neues Vokabular vor (von Verschwörungstheorie bis Hygienekonzept)
eine kulturwissenschaftliche Studie der Uni Passau „Die Verengung der Welt“ über die Corona-Berichterstattung in ARD und ZDF im Frühjahr 2020,
der Biologe Clemens Arvay über den für uns schon gesicherten Impfstoff
und, unbedingt empfehlenswert aus meiner Sicht:
Prof. Dr. Karina Reiss (Uni Kiel) erklärt Coronaviren im Allgemeinen und in diesem speziellen Fall.
Warnung, das, was sie (mit Expertise aus 15 Jahren Forschung über Biochemie, Zellbiologie und Infektion und zahlreichen, zum Teil preisgekrönten Veröffentlichungen) sagt, weicht von dem ab, was ich im Deutschlandfunk und auf etlichen Zeitungstitelblättern gehört und gesehen habe.
Und hier gibts zu guter Letzt noch das vom Goldegg-Verlag zum kostenlosen Download bereitgestellte neue Kapitel über Immunität aus der zweiten Auflage des Spiegel-Bestsellers „Corona Fehlalarm?“ zum Nachlesen für Interessierte:

Exkurs Ende. Zug kommt an! Venedig!!!!!

Mannomann, ist das schön.
Richtig leer ist es nicht, aber es gibt leere Stellen. Und es ist warm! Gut, bei euch auch, habe ich gehört. Aber dieses Licht, diese Farben, dieses grüngolden schwappende Wasser!

Ich wohne in einer sympathischen WG mit Laura, Architektin Mitte vierzig, ihrer Tochter Maya, 19, und Unistudent Alex aus England. Und bin gespannt auf morgen.

Ich halte euch auf dem Laufenden.
Viele liebe Grüße
Julia

Korrektur und Nachtrag

Hallo ihr Lieben,

es gab einen Fehler im vorigen Beitrag. Da hatte sich eine alte Version reingeschlichen, wofür ich um Entschuldigung bitte.
Die Behauptung, dass der Prozentsatz der positiv Getesteten laut RKI von Woche 22 bis heute auf unter einem Prozent war, stimmte nicht: Woche 25 war ein Ausreißer nach oben mit 1,37 % positiven Tests.
Quelle: Robert Koch-Institut unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-26-de.pdf?__blob=publicationFile) S.12
Die vergangenen Wochen hingegen, in denen Reiserückkehrer noch und nöcher getestet wurden, zeigen sinkende Zahlen relativ zur Gesamtzahl der Testungen.

Wer sich über das Geschehen in Berlin informieren möchte, über das hinaus, was die großen Zeitungen und Rundfunksender bringen:

Hier ein kurzer, sehr sachlicher Bericht aus Berlin von Immo Dubies, Journalist, jetzt Herausgeber einer Motorrad-/Quad-Zeitschrift, früher u.a. bei der FAZ tätig: https://www.youtube.com/watch?v=m0pjLugr4p8
Das entspricht wesentlich mehr dem, wie es vor Ort aussah, als das, was ich auf Titelseiten bisher gesehen habe.

Hier eine Zusammenfassung der Demonstration von Kai Stuht mit vielen Bildern und ein paar Ausschnitten aus den Reden (10 min.): https://www.youtube.com/watch?v=VEZ9RyzMFj0

Zur Zahl der Anwesenden: Hier sieht man einen Spaziergang durch einen Teil der Demonstration im Zeitraffer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass all diese Leute in einem Fußbasstadion für 38.000 Leute Platz gefunden hätten. Gut zu sehen auch der Anteil von schwarzweißroten Fahnen im Verhältnis zur Gesamtzahl. Vielleicht findet ihr irgendwo ein paar, wenn ihr die Lupe dabeihabt.
https://www.youtube.com/watch?v=MwPkb1klyHo&pbjreload=101
Derselbe Spaziergang ohne Zeitraffer ist hier, für alle, die es lieber weniger hektisch haben und 54 min. Zeit mitbringen: https://www.youtube.com/watch?v=GtrbWOc47mQ

Ich bin froh, dass sich schon ein paar, von denen ich befürchtet hatte, dass sie jetzt nicht mehr mit mir reden würden, gemeldet haben. Danke dafür!

Liebe Grüße
Julia

Berlin 29.8.2020

Hallo ihr Lieben,

heute bin ich richtig traurig wegen der Dinge, die aus Berlin berichtet werden.
Was aus meiner Sicht gestern passiert ist (aber ich war nicht überall, es ist gut möglich, dass es vereinzelte Provokationen gab):

Zehntausende Menschen, die nicht mehr zum Demonstrationszug durchgelassen worden waren (diverse gesperrte Brücken mit Polizei drauf) spazierten friedlich zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule und verteilten sich, als der Platz nicht mehr reichte, über die angrenzenden Straßen und Grünflächen des Tiergartens. Es wurde getanzt und gepicknickt, und immer wieder, auf Aufforderung von der Bühne, brachen einige ihren Lagerplatz ab und zogen weiter in die Nebenstraßen, um die Abstände einhalten zu können. Nach den Beschlüssen der drei Gerichte, die jeweils das versuchte Demonstrationsverbot wieder aufgehoben haben, war das die Auflage. Abstand von 1,5m – soweit sich das machen lässt. Maskenpflicht nicht generell, denn es war ja draußen. Die hat die Polizei verlangt, als sie den Demonstrationszug sicher auf allen Seiten abgeriegelt hatte, so dass sich niemand mehr Platz verschaffen konnte. Das weiß ich aber nur aus Erzählungen derer, die da drin saßen, und von Film-Mitschnitten der Diskussionen zwischen einem Anwalt des Veranstalters und vermutlich dem Einsatzleiter der Polizei. 
Hätte man den Demonstrationszug einfach loslaufen lassen wie geplant, wäre das mit dem Abstand gar kein Problem geworden. Stattdessen war nicht nur an den Seiten abgesperrt, sondern auch nach vorn, und trotz der gesperrten Brücken zum Hauptbahnhof hin wurden es mehr Leute, als da regelkonform Platz hatten.


Jetzt fragt ihr euch vielleicht, wieso ich überhaupt da war, wo ich doch so gut wie nie auf Demonstrationen anzutreffen bin. Es war, glaube ich, die dritte in meinem Leben. Nee, die vierte.
Ich hatte es eigentlich auch nicht vor, da hinzufahren. Obwohl auch ich die derzeitigen Maßnahmen überzogen finde und die einseitig auf Panikmache ausgerichtete Berichterstattung der etablierten Presse mir Angst macht. Nicht vor Corona, sondern vor einer Gesellschaft, in der Wissenschaftler diskreditiert werden, weil sie aufgrund ihrer Expertise Regierungsbeschlüsse in Frage stellen und wo Menschen mit abweichender Meinung oder auch nur kritischen Fragen lächerlich gemacht und als Nazis dargestellt werden.
Trotzdem wäre ich wohl nicht gefahren, hätte Innensenator Geisel nicht versucht, die Veranstaltung zu verbieten. Mit dem altbekannten In-einen-Topf-Schmeißen „NazisVerschwörungstheoretikerVeganerImpfgegnerCoronaleugner“, denen man „keine Bühne bieten“ wolle. Und außerdem die Ansteckung, klar. Nun ist die Tatsache, dass man jemandem keine Bühne bieten will, bisher als Absagegrund für Demonstrationen nicht anerkannt. Und der Infektionsschutz könnte ja mal nachzählen, ob die Demonstration am 1. August, die als Referenzwert angeführt wurde, denn überhaupt eine Auswirkung auf die Zahl der positiv getesteten hatte. Hatte sie nicht. (Laut Website des Robert-Koch-Instituts sank der Anteil positiver Tests an der Gesamtzahl der Tests in den beiden darauffolgenden Kalenderwochen leicht. (S.12 des Dokuments im Link)
Nur, da haben wir gleich einen Haufen Probleme auf einmal. Denn leider ist ja von vornherein nicht sauber unterschieden worden zwischen Menschen mit einem positiven Testergebnis, Menschen, die tatsächlich mit dem Virus in Kontakt waren und symptomlos damit fertig wurden, und Menschen, die tatsächlich krank werden. Alle positiven Testergebnisse ODER Krankheitsfälle mit passenden Symptomen ohne Test sind uns von vornherein als „Fallzahlen“ präsentiert worden.
Der am Anfang einzige und heute wohl immer noch meistgenutzte von Herrn Drosten entwickelten PCR-Test ist anscheinend bisher nicht validiert, und man weiß nicht wirklich, wie hoch die Rate an falsch positiven und falsch negativen Ergebnissen ist. Man nimmt an, die Genauigkeit sei sehr gut, also zwischen 96 und 99% . Angenommen, wir hätten 99% Trefferquote, dann wäre immer noch jedes hundertste Ergebnis falsch. Wenn also 1000 Leute getestet werden, kann man mit 10 falschen Ergebnissen rechnen, bei 10.000 mit 100, bei 100.000 mit 1.000 Fehlern. Vorausgesetzt, der Test ist wirklich so genau.
Nun ist ja in den letzten Wochen so viel getestet wurden, dass die Kapazitäten der Labore an die Grenzen kamen. Also viel. Fast 1.000.000 Tests in KW 34 (987.423).
So viele brauchte man, um auf die achteinhalbtausend „neuen Fälle“ der Woche zu kommen, von denen in den Nachrichten in täglichen Portionen berichtet wird.

Aber wenn man richtig gründlich sucht, findet man auf der Website des Robert-Koch-Instituts auch Listen, die nicht einfach absolute Zahlen in den Raum schmeißen, sondern die positiv Getesteten pro 100.000 Tests anzeigen. Das ist hoch aufschlussreich, denn die lagen zwischen Woche 23 und Woche 33 immer unter einem Prozent. Reiserückkehrer und Partygänger hin der her. Es gab keinen steigenden Anteil an kranken Menschen verglichen mit der Gesamtbevölkerung, es gab immer nur leicht schwankend um 1% positive PCR-Tests.
Nachsehen könnt ihr das auf der Website des RKI hier (auf S. 12 des Dokuments). Es wundert mich, dass niemand von der Regierung da draufzugucken scheint.
(https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-26-de.pdf?__blob=publicationFile) S.12
Die Sterblichkeit im ersten Halbjahr 2020 ist in Deutschland übrigens trotz SarsCoV 2 nicht über dem Durchschnitt aller Vergleichsjahre. (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-28-de.pdf?__blob=publicationFile S.13)
Das sind keine Zahlen von als Verschwörungsmystikern verschrieenen, das sind Zahlen von der Website des Robert-Koch-Instituts, da sehe ich alle paar Tage nach. Wenn ich aber sehe, dass eben dieses Robert-Koch-Institut seine eigenen Zahlen nicht benutzt, um zu sagen, regt euch ab, keine Panik, wir sind auf einem guten Weg, sondern im Gegenteil momentane Anstiege der absoluten Zahlen an positiv Getesteten als „zweite Welle“ verkauft und wieder mit exponentiellem Wachstum ankommt, ohne dazuzusagen, dass schon das sogenannte exponentielle Wachstum der ersten Welle nur existierte, wenn man vergisst, die Anzahl der Tests mit zu berücksichtigen, frage ich mich, was das soll.
Zumal die Presse ja IMMER liebe schlimme Schlagzeilen verkauft als beruhigende, und sich entzückt darauf stürzt.

Aber ich wollte ja von der Demo berichten. Ich war also nicht in dem Demonstrationszug, der dann aufgelöst wurde und sich nach und nach zu den anderen zwischen Brandenburger Tor und um die Siegessäule rum gesellte, sondern von vornherein auf der Straße des 17.Juni.
Es war eine wilde Mischung. Um eine israelische Fahne herum wurde gevolkstanzt, woanders gab es einen Wagen mit Swing-Musik und tanzenden Paaren, noch wieder woanders tanzten Leute mit Zöpfen und Tracht historisch anmutende Kreistänze zum live Akkordeon. Womöglich waren das schon welche aus der Reichsbürger-Szene – aber vielleicht auch nicht. Erstmal haben die auf der Straße getanzt, genau so friedlich wie der Rest.


Viele hatten Picknickdecken dabei oder Klapphöckerchen. Und Kinder allen Alters.
Ja, einige trugen auch Plakate, auf denen sie all die einsperren wollten, die ihnen mit den als unverhältnismäßig erlebten Corona-Maßnahmen das Einkommen genommen haben oder die Nähe zu lieben Menschen untersagt. Da sah man dann vergitterte PolitikerInnen und Lieblings-Virologen der Regierung.
Auf anderen Plakaten stand: Ich bin KEIN Corona-Leugner, Reichsbürger, Nazi oder Verschwörungstheoretiker. Und trotzdem bin ich hier.


Drei Jungs mit Alu-Hüten auf dem Kopf bewiesen, dass es ein Sammelbecken der Aluhutträger war. Netterweise waren sie einverstanden, sich fotografieren zu lassen. Ein anderer kam in mittelalterlicher Pestmaske. Andere in selbstgehäkelten Exemplaren aus Luftmaschen mit vielen Löchern. Die meisten trugen nichts im Gesicht außer der Brille, denn, wie gesagt, das war ja keine Auflage gewesen, und wir waren draußen und hatten Platz. Das nur zu den Behauptungen, die Demonstranten würden sich immer „über die Maskenpflicht hinwegsetzen“.
Es gab Regenbogenfahnen zu Hauf, Schwedenfahnen und Flaggen diverser Nationen. Und schwarzweißrote. Das war nur ein ziemlich kleiner Teil, aber sie machten mir Bauchschmerzen. Was tut man bei so was? Ich wollte nicht mit schwarzweißroten Fahnen laufen, weil ich – ist das ein Vorurteil? – angenommen habe, dass die neben der Beendigung der Corona-Einschränkungen noch viele Ziele haben, die ich gar nicht teile.
Ich habe sie allerdings nicht gefragt. Hab mich nicht getraut.


Es wurde ziemlich gut Abstand gehalten, erst als um 15:30 Uhr die Kundgebungen losgingen, war es jeweils vor den Leinwänden und an der Bühne zu voll, und es wurde so lange das Programm mit eindringlichen Durchsagen, sich zu verteilen, unterbrochen, bis genug Leute Platz gemacht hatten. Immer wieder wurde auch der Polizei gedankt für die gute und konstruktive Zusammenarbeit. Die meisten Polizistinnen und Polizisten, die ich gesehen habe, standen ruhig und unbeschäftigt an ihren Absperrungen oder Autos und guckten zu. Und antworteten höflich auf Fragen, wo man denn jetzt trotz Absperrung noch lang könnte.
Nur am Hauptbahnhof beim Ankommen war es unangenehm gewesen, weil da direkt die Treppen, die vom Gleis in die Bahnhofshalle führten, von dick gepolsterten schwarz gekleideten Polizeitruppen abgesperrt wurden, als der Zug ankam. Alle, die auch nur eine Spur nach Demonstranten aussahen, wurden aufgehalten und nach Personalien gefragt. Jetzt lohnte sich zum ersten Mal, dass ich immer so brav aussehe, dass alle Maskenbildner mich immer sofort mit Dirndl und Zöpfen ausstatten wollten. In meinem weißen Blüschen kam ich trotz Rucksacks und Outdoorhose unbehelligt an ihnen vorbei.


Jedenfalls verbrachte ich den Tag flanierend auf der Straße des 17. Juni und im Schatten unterm Baum sitzend in der Nähe der Siegessäule, erst an besagter Straße, später, als mehr Platz gebraucht wurde, auf einer Wiese im Tiergarten, von der aus man Teile der nächsten Leinwand sehen und alle Redebeiträge hören konnte. Immer und immer wieder wurde zu Gewaltlosigkeit aufgerufen und zu Respekt den PolizistInnen gegenüber. Mehrfach wurde das Programm unterbrochen, weil es wieder irgendwo zu voll war (meist vor der Hauptbühne), und die Leute angefleht, ihre guten Plätze aufzugeben, damit es keinen Grund gäbe, die Demonstration aufzulösen. Das dauerte immer ein bisschen, und irgendwann gingen genügend in die Seitenstraßen.


Die Redebeiträge selbst waren unterschiedlich, vieles gefiel mir, einiges fand ich zu viel. Organisator Ballweg forderte nicht nur das Beenden der Einschränkungen der Grundrechte (Versammlungsfreiheit, Freiheit der Berufsausübung etc.) und stellte fest, dass der gesundheitliche Schaden durch die Maßnahmen viel höher ist als der Nutzen, er forderte gleich auch den Rücktritt der Regierung. Mir persönlich würde es reichen, wenn die Maßnahmen beendet würden, deren Sinn sich mir überhaupt nicht mehr erschließt. (Es sind seit Wochen unter 250 Menschen deutschlandweit noch in Intensivbehandlung wegen CoViD 19 (bzw. mit positivem Testergebnis und multiplen anderen Erkrankungen). Quelle auch wieder RKI.)
Robert Kennedy jr. schlug in seiner Rede kühn den Bogen zu Bill Gates UND der G5-Mobilfunktechnologie. Da dachte ich, damit tut er der Demonstration keinen Gefallen. Aber offensichtlich fanden viele der Umsitzenden das trotzdem gut. Wie gesagt, es war eine sehr bunte Mischung.
Ein grüner Bundestagsabgeordneter, dessen Namen ich vergessen habe, berichtete, wie er seit Frühjahr seinen ParteikollegInnen immer und immer wieder versucht hatte, andere Informationen als die von Drosten und Wieler bereitgestellten zukommen zu lassen. Und er wurde nicht ernst genommen. Es hieß, „wieso, Merkel und Drosten haben das so gesagt, und das glauben wir jetzt mal, statt uns selbst einzulesen.“
Klar will keiner derjenige sein, der sagt, wir lockern jetzt mal irgend eine Sicherheitsmaßnahme, und hinterher passiert irgendwas und man ist der Buhmann und wird nicht wiedergewählt. Also lieber so sicher wie irgend möglich. Wir retten Leben. Alle.
Viele Leben könnte man auch retten durch z.B. Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen oder Rauchverbot / absurd hohe Tabaksteuer, Verdopplung der Preise für Alkohol o.ä. Aber das wäre natürlich ein Eingriff in unsere Freiheit, das geht also auf keinen Fall.
Ich schweife schon wieder ab.


Jedenfalls waren die Reden, ab und zu aufgelockert durch eine Meditation, in der zwei Minuten lang Licht und Liebe in die Welt gesendet wurde oder Musik, die ich nur am Rande mitbekommen habe, weil ich wirklich dringend mal nach einer Toilette suchen musste, engagiert, eindringlich und größtenteils sehr vernünftig. Es sprachen Anwältinnen, Pflegekräfte – und sogar ein kleiner Junge, der spontan ums Mikrophon bat und von seiner Schule gleich hinter der Schweizer Grenze erzählte. Wo er ohne Maske im Unterricht sitzen und in der Pause mit anderen Kindern spielen darf. Es müssen sich nur alle vorm Unterricht immer gründlich die Hände waschen. Und niemand ist krank geworden.

Ich machte mich gegen sechs auf Richtung Bahnhof, ohne das Ende der Kundgebung ganz abzuwarten. Ich wollte um 18:50 fahren und dachte, ich hätte eine Menge Zeit.
Allerdings waren die morgens gesperrten Brücken immer noch gesperrt, was mich wunderte, weil ich dachte, man sei froh, wenn die DemonstrantInnen auf dem schnellsten Weg wieder verschwänden. Also mussten alle gut 3 km Umweg laufen, und ich verpasste den Zug um eine Minute. Im nächsten saßen dann einige von der Demonstration gekommene gemeinsam in einem Abteil, zusammen mit einem jungen Feuerwehrmann, der von einer der Gegendemonstrationen kam und Mut genug hatte, das zu sagen. Und der zeigte uns, die wir alle glücklich über den guten Verlauf des Tages da saßen, dann die Bilder von den Leuten, die die Polizeiabsperrung um den Reichstag durchbrochen hatten, um da fahnenschwenkend die Stufen hochzulaufen.
So ein Scheiß.
Damit war klar, wie die Berichterstattung aussehen würde. Und dass es kaum noch einen interessieren würde, was wir da eigentlich gewollt hatten, und dass zig- wenn nicht hunderttausende an dem Tag friedlich ihr Demonstrationsrecht ausgeübt hatten.
War das naiv von mir, da mitzumachen? Hätte ich eine eigene Veranstaltung anmelden müssen, um sicherzugehen, dass da niemand kommt, dessen Meinung ich nicht teile?
Interpretiere ich die medizinischen Fakten falsch? Wenn jemand richtig Ahnung hat und mich so aufklären kann, dass ich das verstehe, tut es bitte!

Jedenfalls bin ich gerade richtig entmutigt.
Ich habe mehr oder weniger immer noch Berufsverbot, nur die wenigsten nicht kleinzukriegenden Kirchenmusiker machen unter den herrschenden Einschränkungen wenigstens IRGENDWIE Musik mit ihren Chören, Konzerte fallen flach. Chorwochenenden finden nur bei den allerengagiertesten ChorleiterInnen statt und werden ansonsten abgesagt – oder noch nicht mal das. Eine Chorleiterin sagte auf Anfrage kurz vorm geplanten Chor-Coaching, sie habe gedacht, es sei „eh klar“, dass das Probenwochenende nicht stattfinden könne. Und mein Honorar dann wegfällt, natürlich.
Und na sicher kann ich hier Online-Kurse aller Art reinstellen und immer mal wieder anregen, dass die, die sie nutzen, etwas dafür zahlen – aber das ist nicht mein Beruf! Das ist etwas, das ich auch mal gern machen kann. Aber ich möchte mit echten Menschen echt arbeiten. Und ich kann darauf eine Weile verzichten, wenn wirklich klar ist, dass es nötig ist und Leben rettet. Aber genau das ist mir nicht mehr klar.
Ich nehme mal an, diejenigen, die alle diese Entscheidungen getroffen haben, kommen da jetzt nicht mehr ohne Gesichts- (und Wähler-)verlust raus und sehen sich deswegen gezwungen, weiterhin die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ zu proklamieren.
Ein FDP-Politiker sagte neulich in einer Deutschlandfunk-Sendung, wir sollten doch zufrieden sein, es gebe doch kaum noch Einschränkungen. Das bisschen Maskentragen…
Wo bitte ist die Tischplatte, ich die ich mal eben reinbeißen kann?

Ich auch.

Jetzt hoffe ich, dass ich nicht ZU viele von euch als FreundInnen verliere, weil ich da war. Aber ich glaube, es war wichtig. Trotz allem.

Liebe Grüße
Julia

P.S.: auf YouTube gibt es viele, viele Beiträge, wo ihr ein bisschen selbst sehen könnt, wie es war. Ohne dass alles weggeschnitten ist, was nicht mit Reichs-…. (-tag, -bürger, -flaggen etc.) zu tun hat.

Und hier gibt es auf YouTube einen Vortrag, den Prof. Dr. med. Bhakdi in Budapest gehalten hat. Er ist Infektionsepidemiologe mit hunderten von Veröffentlichungen und Impfbefürworter. Normalerweise. Er erklärt sehr verständlich, wie das Immunsystem mit Sars CoV 2 umgeht und inwiefern eine Impfung da einerseits erfolgversprechend und andererseits eine gute Entscheidung wäre.
Ich fand das sehr erhellend.
Jetzt gute Nacht für heute!
J.

Rhythmusgenerierter Nonsense 6: Kurzgereime, Kinderverse, Limericks

Hallo ihr Lieben!

JETZT erst, nachdem euer Autopilot die ganze Zeit Sachen machen musste, die ihm wahrscheinlich fremd und ungeläufig waren, kommen wir zu altbekannten, leicht fasslichen Formen. MIT Reim, wenn ihr wollt. MIT Zeilenlängen. Inhalt? Nö, muss nicht sein. Nur wenn ihr wollt.
Ihr könnt auch einfach genießen, wie spielend leicht jetzt Sprache in diese Formen rollt und klingt und tanzt.

Hier ist der Film, wir fangen leicht an mit Kindervers-Rhythmen, steigern uns über improvisierte B-Teile und münden in exquisit ausgeführte Limericks. DA darf dann auch der Inhalt gut werden, samt Pointe, wenn ihr wollt.

Die Rhythmen sichtbar gemacht für die visuell Lernenden unter euch:

1:
° O ° O ° O
° O ° O ° O
° O ° O ° O ° O
° O ° O ° O

2:
O ° O ° O ° O °
O ° O ° O
O ° O ° O ° O °
O ° O ° O
(Impro 8 Schläge
in ergänzendem oder kontrastierendem Rhythmus)
O ° O ° O ° O °
O ° O ° O

Limerick:
° O ° ° O ° ° O ° (Ortsname)
° O ° ° O ° ° O °
° O ° ° O
° O ° ° O
° O ° ° O ° ° O °

Viel Vergnügen!
Nächstes Mal schick ich euch in die freie Wilbahn zum tollkühnen Anwenden.

Liebe Grüße
Julia

Rhythmusgenerierter Nonsense 5: Siebener, Rumba, freie Rhythmen

Hallo ihr Lieben,

schwirrt euch der Kopf von all den seltsamen Rhythmen, die in unserer Sprache so ihr Unwesen treiben? Oder habt ihr mit Grausen schleunigst weggeklickt, gar getan, als hätte die Mail euch nicht erreicht? Und gesagt „Mein Gott, ich hab ja auch meinen Haushalt….“?

Also: Für alle, die zu weiteren Selbstversuchen aufgelegt sind, gibts heute endlich die längst versprochnen Siebener. Möge euer Autopilot erfreut und wach reagieren!
So, in Siebenern schreib ich lieber doch nicht mehr weiter, denn das bremst meinen Inhalt wirklich fürchterlich….
Wer noch nachträglich in den Kurs einsteigen will, prüfe, ob es vielleicht hilfreich wäre, sich zumindest Film 1 (Zweier und Dreier) vorher zu Gemüte zu führen. Die anderen sind optional.

Hier im Film führe ich in Siebener, Rumba und ein bisschen Unfug ein.

(Ja, heute nur ein Film. Ein gutes Pferd springt nicht höher, als es muss. Jedenfalls nicht jeden Tag.)

Viele liebe Grüße
Julia

Rhythmusgenerierter Nonsense 4: Die Rhythmen deutscher Wortungetüme

Hallo ihr Lieben,

das Baden reduziert sich im Moment etwas, weil im Fluss ständig Flocken von etwas vorbeischwimmen, das wie seit längerem verwester Hund (lang- und schwarzhaarig) aussieht. Es KÖNNTE auch eine sehr seltsame Art von Algen sein, die oben drauf grünliche Bläschen haben. Und es sind auch eindeutig zu viele Placken für einen einzelnen Hund, selbst wenn es ein Bernhardiner gewesen sein sollte. Trotzdem…

Jedenfalls motiviert einen das, seine Tage mit anderen Dingen und außerhalb des Wassers zuzubringen und zum Beispiel lustige Rhythmus-Filmchen zu drehen.

Ich habe ja keine Ahnung, ob dieses Projekt noch irgendwen außer mir interessiert – aber ihr werdet schon weiterblättern, wenn es das nicht tut.
Und mich fasziniert es genug, um bis Folge sieben durchzuhalten.

Was haben Klavierstimmer, pastellfarbig, Klosettbürste, bevorzugen und Spalierrose gemeinsam?
Und was eint Leichenbegängnis, Radiosender, leidenschaftstrunken und Großvatersessel?

Genau. Im heutigen Spiel geht es um einzelne Wörter und ihre Rhythmen. Keine langen, komplizierten Texte, nur Lego-Bauen mit den erstaunlich vielfältigen Mustern, die deutsche Wörter so haben. Weil man sie so schön zusammenstöpseln kann wie in kaum einer anderen Sprache.

Eignet sich hervorragend für lange Zugfahrten, Wartezimmer und Unterhaltung beim Geschirrspülen – auch zu zweit im Wechsel als ABC-Dialog:
Eine sagt: „Apfelbaum!“, die andere kontert mit „Birnenschnaps!“
1:“Charisma!“
2:“Diebesgut!“
1: „Enkelkind“ oder „Ehrenmord“, je nach Interessengebiet, und immer so weiter bis „Zoobesuch!“ oder „Zackenbarsch!“

Gemeinere Charaktere beginnen mit „Anlageberatung!“,
2: „Bierbrauerverordnung!“,
1: „Chorprobenversuche!“,
2: „Durchhalteparolen!“,
1: „einsteigergeeignet!“,
2: „Fallzahlenpauschale!“ etc.

Unter diesem Absatz sind meine Listen mit so ziemlich allen Rhythmen, über die ich so gestolpert bin von drei bis fünf Silben. Und ein paar von den sechssilbigen. Je genauer man hinhört, desto mehr Spalten gibt es auf einmal. Es hat gedauert, bis mir aufging, warum Kabeljau und Pionier in zwei verschiedene Spalten gehörten.

Auf diese Liste beziehe ich mich im Film durchgehend, es erleichtert die Sache, wenn ihr sie auf dem Bildschirm öffnet oder ausdruckt und danebenlegt, so dass ihr reinschreiben könnt.

Wem das zu viele Spalten sind, der kann mit der abgespeckten und nicht GANZ so genauen Variante anfangen:

Wer gern in fertige ABC-Listen schreibt und sich das Überlegen spart oder nachlesen möchte, wieso ABC-Listen so genial sind und was Vera Birkenbihl dazu sagt, findet sie hier zum Lesen oder Ausdrucken:

Heute gibts vier Filmchen.
Zwei davon aber nur, damit ihr eure Lösungen mit meinen Rhythmen vergleichen könnt. Da hab ich alle noch mal mit Schwung eingelesen und euch unten die Zeiten für jeden Rhythmus hingeschrieben, damit ihr alles sofort findet und nur die aktuell nötigen 30 Sekunden ansehen müsst.

Hier die Spiel- und Erklärwiesen:

Spiel mit den Wortungetümen, Teil 1, wieder als Link, obwohl der eingebettete Film viel besser aussah.

Wortungetüme, Teil 2, die längeren und gefährlicheren:

Die anderen beiden Filmchen dienen, wie gesagt, hauptsächlich zum Vergleichen.
Obwohl ich in min. 0:45 vom ersten die Besonderheit solcher Wörter wie Schlafanzug, Briefumschlag, Strafantrag erkläre, die wir „falsch“ betonen. Schließlich handelt es sich um einen Umschlag für Briefe, keinen Umschlag.
Weil aber „Schlag“ als einsilbiges Wort schon aus einer betonten Silbe besteht und durch das „Um“ davor eine noch betontere dazukommt, was das „schlag“ zu, sagen wir, höchstens halb betont runterdrückt, und sich DAvor noch der „Brief“ als allerbetonteste Silbe des Stapels drängelt, hätten wir im Endeffekt
betont – dreiviertelbetont – halbbetont
hintereinander, und das würde sich so unangenehm stockend anfühlen, dass wir die mittlere Silbe kurzerhand abspecken und zu einer unbetonten machen. Nur wenn man diese Wörter in eine der Listen schreiben will, fängt man an, sich zu fragen, wo sie nun eigentlich hingehören.
Das machen wir aber NUR, wenn das Wort sozusagen aus drei Einsilbern zusammengebastelt ist. Bei „selbstherrlich“ und „Querschläger“ ist die Schlussilbe so leicht, dass wir davon Abstand nehmen, sie schwer machen zu wollen. ZWEI betonte hintereinander tolerieren wir.
So, jetzt müsst ihr den Film für DIESE Info nicht mehr aufmachen.

Film Wörterlisten zum Mitswingen und Vergleichen, Teil 1:

Damit ihr die jeweilige Spalte direkt ansteuern könnt, hier die Zeiten, wo ihr sie im Film findet:

dreisilbig:
Heizungsrohr 0:36
Frikassee 2:22
Garage 2:42
Waldmeister 3:34
eilige 3:56

viersilbig:
Ersatzschlüssel 4:41
Gartenpforte 5:03
Pioniere 5:28
Blumengesteck 6:21
Solidität 6:47

Ähnlichkeiten und Unterschiede der Spalten
Kaninchenstall / Verbesserung / bescheinigen: 7:20

Kaninchenstall 8:25
Verbesserung 9:02
bescheinigen 9:17

fünfsilbig
Zirkusakrobat 9:42
Karawanserail 10:05
Tatverdächtige 10:39
Vegetarier 11:11
Anekdotenschatz 11:46
Schimmelvernichter 12:22
parasitäre 12:51

Film Wörterlisten, Teil 2:

fünfsilbig
systemrelevant 0:31
Versorgungsämter 1:07
Pheromonfalle 1:50

sechssilbig
Familienernährer 3:19
Diebstahlverdächtiger 3:56
Klarinettensolo 4:27 / 5:12
phänomenologisch 6:14
Qualitätsschlachterei 7:05

So, ihr lieben tatverdächtigen FamilienernährerInnen, ich hoffe, ihr konntet hier eine ganz persönliche Qualitätsschlachterei schöner Silben eröffnen.

Viele Grüße
Julia

Rhythmusgenerierter Nonsense 3: Fünfer und Zwiefacher

Hallo ihr Lieben!

Schon wieder keine Privatneuigkeiten außer (zum Zeitpunkt, wo ich dies schreibe):
Tropisches Badewetter, keine besonderen Vorkommnisse außer Großputz mit Gardinenwaschen und Planung lustiger Kurseinheiten.

Was für heute zur Einheit “Fünfer und Zwiefacher“ geführt hat. Siebener hab ich bei genauerer Überlegung noch aufgeschoben, ich will ja keinen verschrecken.
Hier im Film wird die heutige Spielerei erklärt, so dass ihr losschreiben könnt. Es wurde schon reichlich dämmerig während des Aufnehmens – vorher hatte es dauernd geregnet.
In der heutigen Einheit müsst ihr nicht unbedingt stark betonte von mittel betonten Silben unterscheiden wie letztes Mal. Ihr KÖNNT das natürlich, um einen noch eleganteren Flow zu erzeugen, aber stresst euch bloß nicht. Für heute reicht es, wenn ihr schwer und leicht fühlt.
Es gibt viel gute Dichtung, die sich da eher keinen Kopp macht.
Und viel gute, die es tut.
Im Zusammenhang mit Musik fällt es stärker auf als ohne, deshalb ist es für alle, die Lieder texten, eine großartige Qualitätssteigerung, das nach und nach immer besser zu können.

Hier findet ihr ein Filmchen mit einer knappen Viertelstunde meiner Märchenparodien, die aus den verschiedensten Rhythmen entstanden sind.

Es kam die Frage auf, ob denn diese Zweier und Dreier und Vierer in irgendeiner Weise zu tun hätten mit dem, was wir in der Schule als „Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapäst“ gelernt hätten. Damals, als es um Versmaße in Gedichten ging.
Völlig richtig.
Wer möchte, kann einen Zweier oder Vierer, der betont anfängt, auch gern „Jambus“ nennen („Alle meine Entchen…“ oder „Einigkeit und Recht und Dingens“ zum Beispiel)
und einen, der mit Auftakt beginnt, „Trochäus“ („Paulinchen war allein zu Haus…“ / „Es war einmal ein Mann, der hatte einen Schwamm“ – zu Reim kommen wir später).
Einen betont anfangenden Dreier oder Sechser dürft ihr auch mit Daktylus anreden („Urahne, Großmutter, Mutter und Kind…“),
für einen mit einer Silbe Auftakt („Es zogen zwei rüstge Gesellen“ – Eichendorff) gibts meines Wissens keinen Extra-Namen, das wäre vermutlich ein „Daktylus mit Auftakt“.
Und Anapäst bezeichnet einen Dreier mit zwei Auftakten, der also „rataTAMM!“ macht („Das Problem war schon damals das Kaffeeservice, das war zwölfteilig, ganz wie gewohnt.“)

Ganz viele Gedichte mischen übrigens Zweier und Dreier auf eine nicht-stolpernde Art und Weise. Das funktioniert prima, wenn vom Gefühl her ein Dreier läuft, bei dem ab und an eine unbetonte Silbe ausgelassen wird. Automatisch machen wir die davor ein bisschen länger, und so wird der Groove nicht gestört:
Wer reitet so spät (-) durch Nacht (-) und Wind?
Es ist (-) der Vater mit sei (-) nem Kind
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich (-) so trau (-) rig bin“ (evtl. hat Heine auch dass ich so trau (-) rig bin“ gemeint, und Silcher hat es nur anders vertont. Das kommt vor.)

Dass das nicht als stolpernd wahrgenommen wird, liegt auch daran, dass auf der nächst höheren Puls-Ebene wieder große Klarheit herrscht. Der Erlkönig hat vier betonte Silben pro Zeile, die Lorelei drei.
Wenn ihr wollt, marschiert mal, während ihr das Gedicht aufsagt, durch den Raum, jede Betonung bekommt einen Schritt. Wer es ganz wild treiben will, kann bei den Unbetonten noch schnipsen, klopfen, klatschen oder wedeln.
Für die, die sich nicht sicher sind, ob sie die Betonungen hören: Lauft einfach majestätischen Schrittes los und guckt dann, auf welchen Silben der Fuß nach unten ging. Oder haut auf den Tisch beim Sprechen, als wolltet ihr dem Gesagten Nachdruck verleihen. Die Chancen stehen gut, dass das jeweils auf den betonten Silben war. Euer Körper weiß so was alles schon längst. Sonst könntet ihr keinen Text so vortragen, dass man ihn versteht.
Wenn Deutsch-AnfängerInnen mit uns zu kommunizieren versuchen, sind sie ja oft viel eher durch falsche Betonung schlecht zu verstehen als durch ungewohnte Aussprache einzelner Laute.

Zählt beim Marschieren gern mit, wie viele Schritte ihr pro Zeile macht, wie OFT euer Fuß den Boden berührt. Entsprechend der Anzahl spricht man von
dreifüßigen („Es WAR einMAL ein MANN„),
vierfüßigen („PauLINchen WAR alLEIN zu HAUS„),
fünffüßigen („Die ZWÖLFte STUNde WAR beim KLANG der BEcher„) (Chamisso) Jamben etc.
Hänschen klein“ beginnt also mit zwei Zeilen zweifüßigem Trochäus – als Beweis, dass das Kind zu Fuß losging und nicht etwa ritt, klar.

Wenn Musik dabei ist, die ja ganz gern mal lange und kurze Töne bunt zu mischen pflegt, der Abwechslung halber, wird jeder darauf maßgeschneiderte Text sowieso nicht mehr in gleichbleibende Muster wie „Zweier“ oder „Daktylus“ passen, sondern sich geschmeidig nach der Melodie richten. Oder andersherum schon so viel glasklaren, wenn auch wechselnden Rhythmus mitbringen, dass eure Komponist*innen nicht anders können, als die GENAU dazu passende Melodie zu finden. Dazu müssten allerdings alle eure Strophen exakt dasselbe Betonungsmuster haben, sonst kann das nicht klappen.
Wir arbeiten uns hier auch langsam zu bunteren Mustern vor. Sobald euer Autopilot in absoluter Klarheit genau das Muster zu liefern imstande ist, das ihr plant. Und dafür fangen wir mit unausweichlich klaren Mustern an.

Falls ihr bei euren Übungsergebnissen nicht sicher seid, ob sie überall richtig swingen, lest sie laut vor, parallel zu meinem Beispiel für denselben Rythmus. (Bei Bedarf schaltet das Video langsamer. Das geht an dem Zahnrad unten rechts im YouTube-Fenster.) Dann solltet ihr genau merken können, ob es irgendwo hakt.
Alternativ oder zusätzlich könnt ihr mir eure Beispiele über die Kommentar-Funktion unten zuschicken, und pack sie hier unten drunter. Ich kann nicht versprechen, dass ich alle korrigiere, das hängt auch von der Anzahl ab. Aber dann könnt ihr gegenseitig durchgucken – und habt zudem hoffentlich ein paar schöne und lustige Beispiele dafür, was in anderen Gehirnen so passiert ist. (Unterschreibt mit dem Namen oder Pseudonym, der auch hier drunterstehen soll :-))

So, wer jetzt erst bis hierher gelesen hat. statt loszuschreiben, und sich fragt, wo nochmal der heutige Mitmach-Film (7min.) war: Hier ist er. Und hier sind die Märchen noch mal. (Ich mach das diesmal mit Links und nicht mit Einbettung, weil es viel datenschutzkonformer ist und nicht schon beim bloßen Lesen dieser Seite eine vermutlich ungesunde Vorliebe für Metrik in eurem Google-Profil gespeichert wird. Falls der Link nicht geht, könnt ihr dies: https://youtu.be/9jKo74_sEaY in die Adresszeile kopieren.)

Ich wünsche euch allen sehr viel Vergnügen, wenn ihr probiert, in Fünfern zu schreiben!
Julia bei ganz herrlichem Wetter hier an der Ems

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